Ausstellungs-Besprechung:Im Rausch der Erkenntnis

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"Ich bin der letzte Mohikaner": Eine Ausstellung im Literaturhaus ehrt den Kritiker Joachim Kaiser.

FRANZ KOTTEDER

Artikel über berühmte Männer beginnen ja gerne mal mit einer selbst erlebten Anekdote. Nun denn!

Als ich noch Volontär in der SZ war, zeigte ich einem jungen Kollegen, ebenfalls Berufsanfänger, den Weg zu unserem Büro. Im Gang zum Feuilleton kamen wir an vielen Türen vorbei, und plötzlich blieb mein Volontärskollege stehen und starrte erstaunt auf ein Türschild: "Joachim Kaiser? Den gibt's tatsächlich? Ich dachte immer, das wäre bloß so ein Pseudonym für ganz besonders edle Kritiken!"

Genau genommen kann man einem Kritiker natürlich gar kein größeres Kompliment machen, als ihn quasi zur Summe der kritischen Kompetenz seiner Zeitung zu erklären. Den Kaiser gibt es aber jedenfalls in echt, und die ganz besonders edlen Kritiken schreibt er wirklich selbst (oder diktiert sie seiner Sekretärin). Auf gelbem Manuskriptpapier, immer noch, kommen sie dann auf den Tisch des zuständigen Redakteurs, handschriftlich sorgfältig korrigiert mit blauer Tinte. Man sieht, dass der Autor darauf geachtet hat, den Text durch Einfügungen nicht länger werden zu lassen, weil dafür dann an anderen Stellen gestrichen worden ist. Alte Schule eben.

Aber deshalb gleich ein Fall fürs Museum? Ein wenig seltsam kommt es einem schon vor, wenn man die Ausstellung "Ich bin der letzte Mohikaner" im Literaturhaus betritt. Nicht wegen der grauen Schreibtische und Stühle aus der Redaktion, die überall herumstehen (man hat sie tatsächlich aus dem Möbellager des Süddeutschen Verlags entliehen). Sondern weil da ein Mensch und Kollege, den man inzwischen doch ein bisschen meint kennen gelernt zu haben, plötzlich gewissermaßen auf einen Sockel gehoben ist, den er selbst für sich gar nicht beanspruchen würde. Auch wenn er sich, das ist ja klar, darüber freuen mag.

Kuratorin Marietta Piekenbrock hat sich jedenfalls große Mühe gegeben, dem Phänomen des Großkritikers Joachim Kaiser gerecht zu werden. Ein großes, rechteckiges Labyrinth ist in den Ausstellungsraum des Literaturhauses hineingebaut, außen verkleidet mit Zeitungsseiten aus mehreren Jahrzehnten, auf denen Kaiser-Artikel stehen. Drinnen findet man einzelne "Erkenntnis-Räume", so ähnlich nennt das die Kuratorin, Facetten aus Leben und Werk sozusagen. Gleich zu Beginn der Schreibtisch mit einer aufgeschlagenen Partitur, daneben hohe Stöße unbeschriebenen Papiers. Ein paar unkommentierte Fotos an den Glasscheiben, die den Raum von den übrigen abtrennen, Fotos von Frau und Kindern als beinahe einzigen Hinweis auf Privates in der Ausstellung, sieht man einmal von der Kindheit im masurischen Ort Milken ab.

Hauptsächlich aber Briefe, Dokumente und Zitate aus gut 50 Jahren Kritikerleben. Im Zentrum, nicht ohne Grund, der Briefwechsel mit Adorno, bei dem Kaiser studiert hat und der später so eine Art väterlicher Freund für ihn wurde. Von Januar 1968 an begann Adorno seine Briefe an Kaiser jedenfalls mit den Worten: "Lieber Jochen". Hat was. Gerne würde man erfahren, bei welcher Gelegenheit die beiden Brüderschaft getrunken haben und wie das wohl ablief. Die Ausstellung verschweigt es leider: Es steht ja nicht so sehr der Mensch als vielmehr sein Werk im Vordergrund.

Trotzdem, Einblicke gibt es genügend. Man sollte sich die Mühe machen, die Originalbriefe an den Wänden nachzulesen, die Kaiser mit zahlreichen Ehrfurcht gebietenden Namen wechselte: Bachmann,

Grass, Reich-Ranicki oder auch Walter Jens, der 1957 an Kaiser schrieb: "Ihre geschätzte Kritik über mein Buch habe ich gehört; sie war freilich so gelehrt, dass ich nur streckenweise zu folgen vermochte." Oder mit Hans Jürgen Syberberg, der ihm 1981 einmal dringend nahe gelegt hatte, endlich seinen Hitler-Film anzusehen, und dem der Kritiker mit unvergleichlicher, kaiserlicher Nonchalance antwortete: "Das moralische Wohlverhalten, so dachte ich, im postfaschistischen Deutschland kann nicht in erster Linie daran gemessen werden, ob man sich vielstündigen Filmen aussetzt."

So reihen sich Erinnerungen an die Gruppe 47, Leseräume von hoher Kritikerkunst, Schauräume mit Videoszenen aus den Gasteig-Vorträgen, eine Hörkammer mit einem öffentlichen Diskurs, den Kaiser mit Reich-Ranicki führte, aneinander. Eine schöne, vornehm zurückhaltende Ausstellung.

Und dennoch: Irgendwie auch einschüchternd ob der geballten Nachkriegs-Kulturgeschichte. Auch wenn die Frage: "Gibt's den wirklich?" durch zahllose Bild-, Text- und Tondokumente eindeutig beantwortet scheint - was leider weitgehend fehlt: Joachim Kaiser ist ein ziemlich fröhlicher Mensch, der den Begriff "Spaßkultur" nicht mag, der aber viel Spaß hat an Musik, Theater und Literatur, wenn sie denn gut gemacht ist. Einer, dem auch ein bisschen gelebte Anarchie nicht fremd ist. Die übt er ja nicht nur als Radl-Rambo aus, der freundlich grüßend aus dem Verlagshof schießt und derart haarscharf um die Ecke biegt, dass man sich bloß durch einen kühnen Sprung retten kann.

So einer, in dieser Verbindung aus Ernsthaftigkeit und Lebendigkeit, ist schon in Gefahr, "der letzte Mohikaner" zu werden. Er beklagt ja gerne, dass man in den Feuilletons inzwischen lieber die Welt und die Weltpolitik erklärt als die Kunst (mag daran liegen, dass man die Welt sehr viel leichter erklären kann, wie jeder Stammtischbruder weiß). Dabei ist ihm möglicherweise gar nicht bewusst, wie vielen aus der jüngeren Generation er ein Vorbild ist, wenngleich ein kaum erreichbares. Vielleicht sollte ihm das einmal jemand sagen.

Was hiermit geschehen sei.

© SZ v. 18.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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