In Großbritannien kann man nicht allein von der Queen in den Adelsstand erhoben werden. Es gibt auch noch jenen nicht allzu scharf umrissenen, durch häufigen Gebrauch in den Medien zementierten Status des "National Treasure", der im Deutschen wohl am besten mit "Liebling der Nation" wiedergegeben ist.
Zu den Trägern dieses Titels gehören so unterschiedliche Menschen wie Stephen Fry, Margret Thatcher, Bob Geldof - und Tracey Emin. Zum "National Treasure" bringt man es aufgrund einer besonderen Art persönlicher Strahlkraft, eines Charismas, das die Allgemeinheit als Resonanzraum braucht.
Tracey Emin wurde 1997 zum "National Treasure". Damals nahm die Künstlerin in einer Diskussionsrunde des TV-Senders Channel 4 teil. Emin war offensichtlich betrunken; sie beschränkte ihre Beiträge zum Diskurs über den "Tod der Malerei" auf Kichern und Murmeln. Als die anwesenden Akademiker begannen, sich über sie lustig zu machen, fauchte sie, "echte Menschen" würden sich diese Sendung sowieso nicht ansehen, und verließ die Runde mit der Bemerkung, sie wolle lieber bei ihren Freunden sein oder ihre Mum anrufen.
Das wurde vom Publikum als gesunde anti-elitistische Reaktion eines Mädchens aus dem Volk empfunden. Zudem kamen Emins Schüchternheit und zur Schau getragene emotionale Bedürftigkeit, gepaart mit einem Hang zum Selbstzerstörerischen, gut an in diesem Land mit Neigung zum öffentlichen Voyeurismus.
Ausschnitt aus der Talkshow des TV-Senders Channel 4, bei der Tracey Emin durch ihren Auftritt zu nationalem Ruhm gelangte.
Tracey Emin, die Großbritannien 2007 bei der Biennale in Venedig vertrat, ist die bekannteste englische Gegenwartskünstlerin, in Sammlerkreisen auch eine der bestverkäuflichen.
Angesichts ihrer Dauerpräsenz erscheint es erstaunlich, dass es so lange bis zu ihrer ersten gründlichen Retrospektive auf britischem Boden gedauert hat. Zudem wird "Tracey Emin - 20 Years" nicht etwa in ihrer Geburtsstadt London gezeigt, sondern in der Edinburgher Scottish National Gallery of Modern Art.
Thematischen Homogenität
Doch Emins Kunst ist eben weit weniger bekannt als die Künstlerin selbst. Bei Erwähnung ihres Generationsgenossen und ehemaligen Vorbildes Damien Hirst etwa denken die Leute an alles Mögliche, an eingelegte Haie oder neuerdings an Platinschädel.
Emin hingegen hat, abgesehen von der 2004 im Feuer verbrannten Zeltinstallation "Everyone I Have Ever Slept With 1963-1995" und ihrem 2000 beim Turner-Preis ausgestellten Bett, das in Edinburgh natürlich nicht fehlt, bisher wenig mit großem öffentlichen Wiedererkennungswert geschaffen. Was ist der Grund für dieses Missverhältnis zwischen der Prominenz der Künstlerin und der vergleichsweise geringen Breitenwirkung ihres Œuvres?
Eine mögliche Antwort wäre der Verweis auf die Vielfalt der Medien, in denen Tracey Emin über die Jahre gearbeitet hat: Wandteppiche und Aquarelle, Videos und Polaroidserien, Installationen, Briefserien und Acrylgemälde.
Doch erstens haben auch andere Young British Artists wie Hirst oder die Chapman-Brüder sich in diversen Sparten getummelt, ohne dass das Interesse an ihnen selbst größer geworden wäre als das an ihrer Kunst.
Zweitens zeigt sich in der zwei Jahrzehnte umfassenden Edinburgher Schau einmal mehr, dass die Disparität der Ausdrucksformen dieser Künstlerin von ihrer absoluten thematischen Homogenität, ja Monomanie aufgewogen wird: Das einzige Thema der Tracey Emin ist Tracey Emin.
Ohne biographische Hintergrundinformation muss Tracey Emins Werk zwangsläufig nahezu unverständlich bleiben. Gleich zu Beginn der Retrospektive wird der Besucher mit den wichtigsten Eckdaten versorgt: 1963 in London als Tochter eines türkisch-zypriotischen Vaters und einer britischen Mutter geboren, wuchs Emin im südostenglischen Küstenort Margate auf.
Lesen Sie auf der zweiten Seite, wo man Tracey Emin möglicherweise besser studieren kann als bei der Ausstellung in Edinburgh.
Mit 13 Jahren wurde sie vergewaltigt, oder "gebrochen", wie sie selbst es genannt hat. Sie studierte Anfang der achtziger Jahre Modedesign am Medway College und machte eine Druckerausbildung am Maidstone Art College.
Ab 1987 setzte sie diese am Royal College of Art fort. Die dort entstandenen Werke zerstörte sie nach ihrer ersten, katastrophal verlaufenen Abtreibung im Mai 1990. Die damals vernichteten Bilder tauchten später als Miniaturreproduktionen in ihrer ersten WhiteCube-Soloschau "My Major Retrospective 1982 - 92" wieder auf und sind auch in Edinburgh zu sehen. Diese einschneidenden Erlebnisse sowie eine ganze Reihe sexueller Episoden in einer Zeit, die sie als "emotionalen Selbstmord" bezeichnet hat, bilden die Grundlage von Tracey Emins Werk.
Je mehr man über die Künstlerin weiß, desto mehr Bedeutung gewinnen die Memorabilien, die einen Großteil ihrer Werke aus den neunziger Jahren ausmachen.
Rudimentär phallische oder vaginale Formen
So entfaltet das Bric-à-brac der in fünf Holzrahmen präsentierten Installation "My abortion" nur dann die intendierte verstörend intime Wirkung, wenn man weiß, in welchem unmittelbaren Zusammenhang das blutgetränkte Papiertuch, die Tabletten, das Krankenhaus-Plastikarmband mit der Abtreibung stehen, die Emin en détail in einem beigefügten Brief schildert.
Auch die hingehuschten Monoprints im selben Raum, auf denen eine Frau mit gespreizten Beinen auf einer Art Bahre zu sehen ist, behandeln dasselbe Thema. Diese Art kleinformatiger Graphiken, meist mit rudimentär phallischen oder vaginalen Formen, entstehen über die Jahre immer wieder.
Jedes Stück hier ist Biographie: Im Video "CV - Cunt Vernacular" erzählt Emin ihr Leben bis Ende 1997 nach, während die Kamera durch ihre unordentliche Wohnung schweift, bis sie schließlich bei der Künstlerin zum Stehen kommt, die nackt und zusammengekauert auf dem Boden liegt.
In "The Perfect Place to Grow" (2001) kann man durch ein Loch in der Wand einer alten Hütte einen kleinen Film-Loop von Emins Vater betrachten, der ihr eine Blume überreicht.
Als eigenständige Kunstwerke funktionieren die Stücke am besten, die ein wenig Abstand von der Schöpferin gewinnen: die annähernd abstrakte, zarte Aquarellserie "Berlin the Last Week in April" (1998) oder das seltsam rührende, Beuys-hafte "Self Portrait (Bath)" (2005): Bambusrohre, die wie Beine aus einer mit Stacheldraht gefüllten Zinkwanne ragen.
Und doch ist es zweifellos die mehr als einmal die Grenze zur unangenehmen Plattheit bewusst überschreitende, ungefilterte Selbstentblößung, die das Gros dieser Schau ausmacht.
Daher bleibt in Edinburgh letztlich eine Leerstelle - da, wo die Künstlerin sein müsste, der exhibitionistische Fixstern, um den die autobiographischen Bruchstücke kreisen. Und so fragt man sich schließlich, ob man nicht doch noch mehr über das künstlerische Vermächtnis Tracey Emins erführe, würde man regelmäßig ihre Stammkneipe The Golden Heart in Spitalfields aufsuchen. Dort kann man sie mit etwas Glück in Ruhe als Gesamtkunstwerk studieren.
"Tracey Emin - 20 Years" in der Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, bis 9. November. Info: www.nationalgalleries.org, Katalog: 14,95 Pfund.