Ausstellung:Stadträume und Feuchtgebiete

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Die Pinakothek der Moderne wirft einen erweiternden Blick auf den japanischen Fotografen Araki

Von Evelyn Vogel, München

In einigen Ländern sähe sich die Museumsverwaltung vermutlich genötigt, einen Hinweis mit der Aufschrift "Diese Ausstellung ist nicht jugendfrei" anzubringen. Denn was der japanische Fotograf Nobuyoshi Araki in den Sechzigerjahren und Anfang der Siebzigerjahre in schwarz-weiß fotografierte und in der Serie "Tokyo" publizierte, bewegt sich mitunter nahe an der Grenze zur Pornografie. Die Ästhetik der Arbeiten war für jene Zeit neu und ruppig. Und sowohl mit den Inhalten als auch mit der Ästhetik wollte sich Araki von der ihn bis dahin ernährenden Werbefotografie unabhängig machen. So begann er eines seiner Künstlerbücher mit den Worten: "Ich kann es einfach nicht mehr ertragen." Mit der Entscheidung, diesen neuen Weg zu gehen, wollte er sich aber auch stärker in der eigenen Geschichte verorten.

Die erotischen Bilder sind nur ein Teil seiner massenhaften Produktion. Araki fotografierte schon immer wie ein Besessener - atemlos streifte er durch die Stadt. Und demonstrierte damit auch seine Bewunderung für die Bildästhetik eines Henri Cartier-Bresson oder eines Jean-Luc Godard. Bis heute gibt es Tausende von Aufnahmen, zudem hat er mehr als 600 Fotobücher publiziert. Viele dieser Aufnahmen zeigen völlig alltägliche Straßenszenen: Passanten, die an Kreuzungen warten, bis die Ampel auf Grün springt, mit dem Teleobjektiv nah herangeholt, so dass die Fotografierten die Kamera gar nicht bemerkten. Einzelne, die sich wie schematisch durch die Straßen japanischer Städte bewegen, zufällige Gruppen von Menschen. Zudem Häuser, Reklame, Parks, Ruhebänke. Araki erweist sich hier als Vertreter der Street-Photography, der den Stadtraum zum Fließen bringt. Für die Bildserie "Tokyo" hat er diese alltäglichen Stadtraumszenen mit den erotischen Bildern einer jungen Frau zu Diptychen kombiniert.

Aber als Araki in den Neunziger- und Nullerjahren in Europa bekannt wurde, standen vor allem seine hocherotischen Bondage-Aufnahmen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Arakis Fotografie wurde zum Synonym für Erotik, Exotik, Provokation. Den einen galten die Aufnahmen trotz sexueller Revolution als zu pornografisch, den anderen vor einem feministischen Hintergrund als frauenverachtend.

Nun zeigt die Pinakothek der Moderne unter dem Titel "Tokyo" frühe freie Arbeiten des 1940 geborenen Fotografen. Die Kuratorin Inka Graeve Ingelmann stellt diesen "Akt der Rebellion", wie sie die titelgebende Serie "Tokyo" bezeichnet, in den Mittelpunkt einer Schau, die zeigen soll, dass Arakis Fotografie mehr ist als Bondage und weibliche Unterwerfung, die zwischen Geschlechtsakt und Selbstbefriedigung zu verorten ist - und damit mehr als pure Männerfantasie. Sie bettet die 28 Diptychen, die das Museum vor 13 Jahren mit Hilfe der Freunde von Pin erworben hat, ein in den frühen Araki-Kosmos der Sechziger- und Siebzigerjahre. Und so lässt sich ablesen, dass Araki tatsächlich viel häufiger den Stadtraum fotografisch erkundet hat als die Feuchtgebiete junger Frauen. Wobei viele der Bilder seine Frau Yoko zeigen, deren frühen Tod im Jahre 1990 - sie starb an Krebs - er ebenfalls fotografisch verarbeitete.

Die Kuratorin bezeichnet Arakis "Tokyo"-Serie als "Akt der Rebellion"

So ist in der Ausstellung neben den Originalaufnahmen für "Tokyo" auch das dazugehörige Künstlerbuch zu sehen, das nun auch noch einmal neu aufgelegt wurde. Daneben die beiden ersten Künstlerbücher "Sentimental Journey" (während der Hochzeitsreise mit Yoko entstanden) und "Okinawa". Teils liegen diese aufgeblättert in Vitrinen, teils wird man digital hindurchgeführt. Außerdem werden die ebenfalls als Bildpaare kombinierten Aufnahmen aus der Serie "The Past" gezeigt, in der sich Araki fast ganz auf das Alltagsgeschehen in den Straßen seiner Heimat konzentriert. Und eine weitere 40-teilige Serie, die sich "The Days We Were Happy" nennt. Hier hat Araki Fernsehbilder von Serien und Werbesendungen abfotografiert, mittig zerrissen und anschließend leicht versetzt wieder zusammengefügt, was den Protagonisten ihre künstliche Glätte nimmt und die ursprüngliche Wirkung radikal bricht. Der ehemalige Werbefotograf deutet an, dass alles Lug und Trug ist.

Noch radikaler in der Methodik sind die "Xerox Photo Alben" von 1970. Wer sich an frühe Vervielfältigungsmöglichkeiten erinnert, könnte beim Anblick dieser Alben wehmütig werden: Wie rau und unscharf diese Kopien doch waren! Araki hat sie zu Alben gebunden und einfach verschenkt. Und zwar nicht nur an Freunde und Bekannt. Wie Graeve Ingelmann zu erzählen weiß, ging er auch hin, suchte aus dem Telefonbuch von Tokyo ein paar beliebige Namen und Adressen heraus und schickte diesen Personen je ein Exemplar. Was die damit anfingen, ob sie sich verwundert die Augen rieben beim Anblick dieser seltsam ruppigen Vervielfältigungen von Porträts, ob sie überhaupt hineinschauten oder sie unbeachtet zur Seite legten und in den Müll warfen - Araki war es einerlei. Für ihn zählte nur, seine Bilder zu teilen.

Die Ausstellung zeigt also nicht nur einen erweiternden Blick auf das Werk Nobuyoshi Arakis. Denn spätestens an dieser Stelle wird aufhorchen, wer sich fragt, ob Araki noch zeitgemäß ist. Während wir über Facebook, Instagram und Snapchat so tun, als ob wir mit dem Teilen von Bildern in digitalen Zeiten das Rad neu erfunden hätten, gab es derlei Ansätze natürlich schon viel früher. Gewiss, die Menge war begrenzter und dahinter steckte Handarbeit. Aber Arakis Hang, das Gesehene und Fotografierte mit allen Mitteln unter die Leute zu bringen - das hat doch einen sehr modernen Aspekt.

Araki. Tokyo. Pinakothek der Moderne, Barer Str. 40, bis 4. März, Di-So 10-18 Uhr, Do bis 20 Uhr; Vortrag japanische Fotografie der Siebzigerjahre: 7. Dez., 18.30 Uhr, japanische Filmabende im Siemens-Auditorium und im Futuro Dez.-Feb.

© SZ vom 28.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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