Ausstellung in Wien:Erinnerungsarbeit

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Es gab viele bedeutende Künstlerinnen im Wien der Jahrhundertwende. Selbstverständlich mischten sie den Kulturbetrieb auf - bis die Nazis kamen. Eine grandiose Ausstellung zeigt nun ihre Meisterwerke.

Von Catrin Lorch

Die Marmorfrau kauert auf einem Steinbrocken, ihr Haar ringelt sich über den nackten Rücken bis zum Boden, unter den Strähnen blicken die riesigen Augen überrascht, während ihre Hände die Zehennägel schärfen. Weil zwischen den schlanken Beinen ein Besen schon bereit liegt, ist klar, dass sich die "Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht", die Teresa Feodorowna Ries im Jahr 1895 in Lebensgröße in Marmor meißelte, nicht mehr viel anziehen wird, bevor es losgeht. Ein paar Meter neben der Skulptur hängt ein Gemälde, das in ganz anderer Weise surreal wirkt: Ein Mädchen in rotem Kleid beugt sich darauf über einen Vogelkäfig. Broncia Koller-Pinell hat ihre Tochter Silvia im Jahr 1907 puppensteif in eine tuschfarbene Stille gesetzt, die Vögel wirken wie eingefroren, im Hintergrund liegt Obst auf den schwarzen Fußbodenkacheln.

Dass die beiden Werke eines Tages gemeinsam ausgestellt werden, war nicht zu erwarten. Haben sie doch weder stilistisch noch vom Thema her viel miteinander zu tun. Doch sind sie beide von Künstlerinnen geschaffen, die in Wien um die Jahrhundertwende bekannt wurden, an einem Ort und zu einer Zeit, als Malerinnen und Bildhauerinnen sich Sichtbarkeit erkämpften.

Wurde die Kunst von Frauen vor mehr als hundert Jahren selbstverständlicher rezipiert?

Während die Hexe im Jahr 1896 im Künstlerhaus noch einen Skandal verursachte, in dessen Folge sich etablierte Künstler wie Gustav Klimt, Kolo Moser oder Egon Schiele jedoch für die Kunst von Frauen stark machten, war die etwas jüngere Künstlerkollegin Broncia Koller-Pinell schon an mehr als fünfzig Ausstellungen beteiligt gewesen. Sie nahm selbstverständlich an den Freitagabendtreffen der Klimtgruppe teil. Das Wiener Belvedere erzählt jetzt mit der Schau "Stadt der Frauen" von einem Kapitel Kunstgeschichte, das nach dem Zweiten Weltkrieg so vollständig in Vergessenheit geriet, wie die Namen der Künstlerinnen.

Kann es sein, dass vor mehr als hundert Jahren die Kunst von Frauen selbstverständlicher rezipiert wurde? Die Autoren rechnen im Katalog jedenfalls vor, dass im Jahr 1908 der Anteil von Frauen bei Ausstellungen in der Secession bei mehr als einem Drittel lag. "Zwangsläufig muss man die Frage stellen, wo Künstlerinnen vor 110 Jahren standen", schreibt Sabine Fellner in ihrem Beitrag, "und wie es zu einer derart hohen Beteiligung von Frauen in einer der spektakulärsten Kunstschauen im Wien des Fin de Siècle kam". Sie nennt als Voraussetzungen nicht nur die politische Teilhabe von Frauen, die ab 1918 wählen durften, sondern auch die Eroberung der Akademien und Universitäten, wo sich 1897 erstmals Studentinnen für das Fach Medizin immatrikulierten.

Nachdem Frauen lange nur inoffiziell in kostspieligen Abendklassen unterrichtet wurden, studierten an der "Wiener Kunstschule für Frauen und Mädchen", die ab 1926 als "Wiener Frauenakademie und Schule für freie und angewandte Kunst" firmierte, bis zu 300 Schülerinnen. Viele Absolventinnen, die weiterhin von der Mitgliedschaft in wichtigen Künstlervereinigungen wie der "Genossenschaft bildender Künstler" oder der Secession und dem Hagenbund ausgeschlossen blieben, organisierten sich in der "Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs". Erstmals gewannen Frauen Staatspreise, die Moderne Galerie kaufte ihre Werke an und die Überblicksausstellung "Die Kunst der Frau", die im Jahr 1910 den weiblichen Beitrag zur Kunst seit dem 17. Jahrhundert wissenschaftlich aufarbeitete, sahen mehr als 12 000 Besucher.

Die marmorne Hexe wurde nur wiedergefunden, weil sie mit roter Farbe übermalt war

Das waren Erfolge, auch der Versuch, weibliche Kunstgeschichte zu schreiben. Sie wurden aber schon früh auch von Frauen selber als ungenügend kritisiert: Schon 1933 betonte Elisabeth Gotthard: "Die Künstlerin wünscht als Selbstverständlichkeit, betrachtet zu werden. Eine Sonderstellung erstrebt sie in ihrem Schaffen nur auf Grund ihrer Leistungen. Nicht als soziale Schicht. Nicht als Geschlecht." Und die Kunsthistorikerin Erica Tieze, die als erste Frau in Wien in dem Fach promovierte, meinte, die Veranstalterinnen wüssten durchaus, "dass eine eigene Klassifizierung als ,weibliche Kunst' den Künstlerinnen mehr Schaden als Nutzen brächte".

Die Zeiten, in denen man auf so hohem Niveau über Kunst als Frauenfrage diskutieren konnte, endeten abrupt mit dem Anschluss Österreichs unter dem deutschen NS-Regime. Viele Künstlerinnen emigrierten und mussten bei der Flucht ihre Werke zurücklassen. Ilse Twardoswki Conrat, die Organisatorin von "Die Kunst der Frau" wählte den Tod, um der Deportation in ein Konzentrationslager zu entgehen. Die Nationalsozialisten tilgten aktiv ihre Namen aus der Kunstgeschichte. Eine nach der einflussreichen Lehrerin Tina Blau benannte Straße wurde umbenannt, ihr Name aus Überblicksdarstellungen österreichischer Kunstgeschichte gestrichen.

Keiner dieser Vorgänge wird nach dem Krieg revidiert oder aufgearbeitet. In der konservativen Nachkriegszeit beschäftigte sich niemand mit der verlorenen, weiblichen Avantgarde. "Von vielen dieser Künstlerinnen ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Eine Auswahl zu treffen war daher abhängig von der Verfügbarkeit ihrer Werke", schreibt Sabine Fellner. Die marmorne Hexe konnte nur deswegen wieder aufgefunden werden, weil sie im Freien aufgestellt war, mit roter Farbe übermalt.

Friedl Dickers „Verhör I.“ aus dem Jahr 1934 löst Raum und Situation in farbige Abstraktion auf. (Foto: Belvedere, Wien)

Die Erinnerung an die Wiener Tradition von immerhin drei Generationen künstlerisch tätiger Frauen war so nachhaltig ausgelöscht, dass Julie M. Johnson, die als eine der ersten im Jahr 2012 zu dem Thema forschte, feststellte, es sei immer noch schwer vorstellbar, "dass Freuds Wien so viele aktive oder auch berühmte Künstlerinnen aufwies".

Schon deswegen sind der uneinheitliche Stilmix und die Vielfalt die größten Stärken dieser Ausstellung, in der auch die gespenstischen Erfindungen einer Lilly Steiner zur Geltung kommen. Ihr "Portrait Lilian Gaertner", im Jahr 1927 gemalt, ist fast eine Karikatur, vom gummiweichen Gesicht bis zur angespannten Figur. Ihr "Donauweibchen", das Bild einer Skulptur in einem Park, ist umringt von Traumwolken wie eine versponnene Bilderzählung.

Der Gegensatz zu der Malerei Stephanie Hollenstein könnte kaum größer sein, deren markantes "Bildnis eines Soldaten (Selbstportrait)" aus dem Jahr 1917 entstand, während sie tatsächlich als Mann verkleidet an der Weltkriegsfront kämpfte. Nach ihrer Entlarvung durfte sie als Kriegsmalerin bleiben, wurde früh Mitglied der NSDAP und reüssierte unter dem NS-Regime zur Vorsitzenden des Künstlerverbands Wiener Frauen.

Die bedeutendste Künstlerin unter den Verlorenen ist Friedl Dicker, deren Werk jetzt im Bauhaus-Jahr wieder entdeckt wird. Von der Bauhaus-Studentin werden nicht nur die collagierten Plakate wie "Das Bürgertum faschisiert sich" gezeigt, sondern auch die Gemälde "Verhör I" und "Verhör II" aus den Jahren 1934 bis 1938. Einerseits schildern die Bilder die Befragung durch Behörden, der Schreibtisch und die Schreibmaschine sind da, sogar die tippenden Hände einer Sekretärin. Andererseits löst sich alles in Abstraktion auf, in kreidige Wände und schlierig übermalte Aussichten. Augen werden zu schwarzen Flecken, Hände zerlaufen in einem Rot, das auftrocknet wie Schorf. Solche Räume, solche Körper werden Künstler wie Mark Rothko oder Francis Bacon erst nach dem Krieg malen, wenn überhaupt einer von ihnen. Der überwältigende Eindruck solcher Bilder verwandelt eine Ausstellung, die als brave Etüde der Kunstgeschichte hätte enden können, in eine großartige Erfahrung.

Stadt der Frauen. Unteres Belvedere, Wien. Bis 19. Mai. Der Katalog kostet 36 Euro.

© SZ vom 29.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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