Ausstellung in Lübeck:Das Gras wachsen sehen

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Die Möbel für „Tabula Rasa“ (2018) hat Doris Salcedo erst zerhackt und dann mit dem Skalpell wieder zusammen gefügt. (Foto: © Stefan Hirtz)

Wie mit dem Trauma umgehen? Die kolumbianische Bildhauerin Doris Salcedo schmilzt Kalaschnikows in Bodenkacheln um.

Von Jörg Heiser

Es ist, als hätte etwas von innen fünf Holztische zerfressen. Termiten beispielsweise. Die Oberfläche übersät mit Rissen und kleinen Löchern, an einigen Stellen wie herausgenagt. Aber der erste Eindruck passt nicht. Nirgends sind lose Splitter oder Holzmehl zu sehen. Das Zerfressene ist zu gleichmäßig für einen Insektenbefall, es betrifft jeden Zentimeter Oberfläche.

Sobald man erfährt, wie diese Werke entstanden sind, verblasst die erste Assoziation. Denn die Geschichte beginnt so: Seit dreißig Jahren beschäftigt sich die 1958 geborene Künstlerin Doris Salcedo mit den Folgen der schier endlosen Dauerkrise in ihrem Heimatland Kolumbien. Sie recherchiert zu den Verbrechen der Bürgerkriegsparteien und Drogenkartelle, den Verschwundenen, Getöteten, den Opfern von Folter und sexueller Gewalt. Stets beginnt eine Arbeit mit Interviews mit den Überlebenden oder Angehörigen. So auch im Falle von "Tabula Rasa", entstanden 2018. Salcedo sprach mit Frauen, die von Bandenmitgliedern, Guerilleros, Paramilitärs oder Soldaten vergewaltigt worden waren. Die Interviews veröffentlicht sie nicht, aber sie transformiert die Erfahrungen in künstlerische Objekte. Diese Frauen sehnen sich nach einem radikalen Neuanfang, danach, das Erlebte vergessen zu können. Doch die sexuelle Gewalt gegen sie wird in Kolumbien (und nicht nur dort) als Nebensache behandelt, als Kollateralschaden. Die Opfer werden nicht gehört, die Taten in der Regel nicht verfolgt. Der Neuanfang - die Tabula rasa - wird verhindert, weil das Trauma des individuell Erlittenen potenziert wird durch das gesellschaftliche Leugnen und Bagatellisieren.

Die Tische hat Salcedo in ihrem Atelier in Bogota gemeinsam mit ihrem Produktionsteam in kleinste Stücke zerbrochen - und anschließend in monatelanger Geduldsarbeit wieder zusammengeleimt. Dazu waren Experimente notwendig, zersprungene Keramik wurde ebenso untersucht wie das Arbeiten mit chirurgischen Skalpellen. Das Ergebnis sind Tische als fragile Rekonstruktionen ihrer selbst. Sie sind jetzt Teil der Ausstellung Salcedos in der Kunsthalle St. Annen zu Lübeck, als erste Preisträgerin des neu geschaffenen Possehl-Preises für Internationale Kunst.

Das Unwiederbringliche des Zustands vor der Zerstörung ist augenscheinlich. Warum Tische? Man muss an eine berühmte, erschreckende Arbeit der kubanischen Kunstpionierin Ana Mendieta denken, die 1973 für die Performance "Untitled (Rape Scene)" nackt und blutverschmiert über einen Küchentisch gebeugt, an den sie mit den Händen festgebunden war, eine Stunde lang vor Publikum verharrte. Bei Salcedo könnte es auch der Tisch in einem Verhörzimmer sein. Die Gegenstände selbst verraten diese Geschichte nicht; doch sobald man sie aus Katalogtexten oder dem Ausstellungshandzettel erfährt, können die Tische gar nicht mehr anders erscheinen denn als unheimliche, stumme Spuren eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Sie werden eine Ahnung davon, was es bedeutet, Geschehenes nicht rückgängig machen zu können.

Das Wrack eines Flüchtlingsschiffs wirkte auf der Biennale in Venedig wie ein Souvenir

Und das im beschaulichen Lübeck. Da denkt man erst einmal, ganz Klischee, nicht an Bürgerkrieg und Drogenkartelle, sondern an Marzipan und Thomas Mann. Die Possehl-Stiftung, 1919 mit Vermögen des im gleichen Jahr verstorbenen Lübecker Kaufmanns Emil Possehl gegründet und bis heute ein gewichtiger Förderer in der Hansestadt, finanzierte bislang nur die im Jahr 2003 eröffnete Kunsthalle. Der Possehl-Preis für Internationale Kunst wurde jetzt erstmals vergeben, er ist mit 25 000 Euro dotiert und soll alle drei Jahre verliehen werden.

Man könnte die Tische nun in den weißen Ausstellungsräumen, die in die Ruinenreste der im 19. Jahrhundert abgebrannten Kirche des St.-Annen-Klosters eingebaut sind, für fehl am Platz halten. So als böten sie bequemen Kunsturlaub in anderer Leute Elend. Dem ist aber nicht so: Salcedo hat bislang stets der Versuchung widerstanden, die realen Gegenstände der Gewaltausübung oder des Unrechts selbst zum fetischisierten, souvenirhaften Kunstobjekt zu machen. Im Gegensatz etwa zum Schweizer Christoph Büchel, der in Venedig derzeit bei der Kunstbiennale ein aufgebocktes, vor Lampedusa gesunkenes Flüchtlingsschiff zeigt. Büchel liefert den Schauer des Echten, das wirkliche Wrack als Hingucker, unter Vortäuschung von Engagement - als wolle er dem Publikum die Augen für etwas öffnen, dem es sich sonst verweigert. Am Ende verwendeten es viele Biennale-Besucher aber tatsächlich als Hintergrund für Selfies.

Das ungerührt forensische Zeigen des Flüchtlingsschiffs beruht auf einem fundamentalen Missverständnis der mehr als 100 Jahre alten Idee des Readymade. Es geht nicht einfach nur darum, einen Gegenstand völlig unverändert in die Kunst zu transferieren. Marcel Duchamp gab sich nicht umsonst größte Mühe, erstens möglichst banale oder obskure Dinge auszuwählen; und sie zweitens mittels Titel und Präsentationsform eines jeden Anflugs von Reliquie zu berauben. Ein Urinal heißt "Brunnen", eine Schneeschaufel "in Erwartung eines gebrochenen Arms". Dem Kunstmarkt gelang es erst, aus diesen Objekten Fetische zu machen, als Duchamp selbst längst zum Mythos geworden war.

Die Kalaschnikows der FARC-Rebellen schmolz die Künstlerin in Bodenkacheln um

Salcedo geht nicht in die Reliquien-Falle. Als Künstlerin, die in den Achtzigerjahren in New York studierte, kennt sie die lateinamerikanische Moderne ebenso gut wie die Geschichte der Minimal Art und der Konzeptkunst - und weiß, dass sie nicht mit blutverschmierten Fetzen oder ausgestellten Folterwerkzeugen hantieren kann, wenn sie eine wirkliche Transformation des Geschehenen hin zu so etwas wie Erinnerungsarbeit erreichen will. Ein riesiges, rotbräunliches, Falten werfendes Tuch bedeckt beispielsweise den Boden eines der Räume in Lübeck. Es besteht aus Abertausenden konservierten, miteinander vernähten Rosenblättern. Hochfragil und dezent duftend ist die Arbeit mit dem Titel "A Flor de Piel" - spanisch in etwa für "das Herz auf der Zunge tragen" - eine Verbeugung vor einer kolumbianischen Krankenschwester, die entführt und zu Tode gefoltert wurde. Ein Leichentuch.

Irgendwann mag einen dennoch das Unbehagen ob so viel in Kunst verwandelten Leids beschleichen. Bleibt da nicht der ästhetische Eigensinn, der Witz auf der Strecke, geopfert einem geborgten Schrecken? Gegenfrage: Wie sonst auf die Alltäglichkeit brutaler Gewalt reagieren, auf das Fehlen, in vielen Teilen der Welt, einer gesellschaftlich akzeptierten Erinnerungskultur? Genau in diese Richtung arbeitet Salcedo übrigens hartnäckig. Ein Projekt von 2016, für das sie gemeinsam mit vielen Helfern die Namen der Opfer des kolumbianischen Bürgerkriegs auf ein weißes Tuch schrieb, das am Ende den Plaza de Bolivar in Bogota bedeckte, erntete noch Kritik: Salcedo habe das Ganze generalstabsmäßig durchgezogen, anstatt die längst vor Ort arbeitenden Aktivisten genügend einzubinden.

Anders dann 2018: Als Teil des Friedensabkommens mit den Farc-Rebellen beauftragte die Regierung Salcedo, aus den abgegebenen Kalaschnikows der Guerilleros ein Denkmal zu formen. Salcedos Gegen-Monument, wie sie es nennt, entstand, indem sie die Waffen zu dünnen Bodenplatten einschmelzen ließ, die anschließend von Frauen, die allesamt Opfer sexueller Gewalt geworden waren, mit Hämmern bearbeitet wurden. Die Metallkacheln, die nun fragil wie zerknittertes Papier aussehen, bilden den Boden eines Annex des Nationalmuseums, in dem auch künftig durch künstlerische Interventionen an den Bürgerkrieg und seine Opfer erinnert werden soll.

Auch in Lübeck wird Salcedos Fähigkeit deutlich, durch die Transformation von Material kognitive Dissonanz zu erzeugen, die etwas mit Erinnerung und Empathie anstellt. Da sind Holzstühle "Thou-Less", deren Oberflächen in Stahl abgegossen sind, sodass die daraus resultierenden Fragmente paradoxerweise fragil-verletzlich wirken. Da sind aufeinander gestapelte, einen ganzen Raum verrammelnde Tische, aus denen Grashalme wachsen und vier hauchdünne Seidenhemden, die mit tausenden Nadeln verwoben sind. Letztere hängen oder besser schweben wie optische Täuschungen an der Wand, während der Titel "Disremembered (2014-17)" zuletzt, als gelte es für alle ausgestellten Arbeiten, auch an diesem Ort und in diesem Land, noch einmal daran erinnert, dass wir uns gerade an das Schmerzhafteste und Beschämendste nicht immer erinnern können, erinnern wollen.

Doris Salcedo. Tabula Rasa. St.-Annen-Kunsthalle Lübeck. Bis 3. November.

© SZ vom 09.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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