Ausstellung:Die gelöste Herkulesaufgabe

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Rittlings sitzt Georg Petels Herkules auf dem Löwen. Er hat den Oberkörper so athletisch gedreht, dass er der Bestie, dem "Nemeischen Löwen", die Kiefer auseinanderreißen kann. (Foto: Walter Haberland / Bayerisches Nationalmuseum München)

Der Westflügel im Bayerischen Nationalmuseum ist fertig renoviert und neu eingerichtet

Von Gottfried Knapp

Dass Kunstwerke, die vor langer Zeit geschaffen wurden, heute prächtiger strahlen als zu ihrer Entstehungszeit, mag zunächst etwas unglaubwürdig klingen. Denn viel von dem, was heute in Museen verwahrt wird, zeigt seine erlittenen Schäden ganz offen. Gobelins zum Beispiel, aber auch Gemälde büßen selbst bei bester Konservierung im Lauf der Jahrhunderte einiges ein von ihrem ursprünglichen Glanz. Objekte aus Elfenbein, Silber, Glas oder Porzellan aber können, wenn sie fachmännisch konserviert und gereinigt werden, im Licht der neuen LED-Beleuchtungstechniken eine Strahlkraft und einen plastischen Zauber entfalten, wie sie ihn ehedem im Tages- oder Kerzenlicht der Künstlerwerkstätten, aber auch in den festlich illuminierten Salons der Adligen oder im Dämmer der Kirchen nie hatten entwickeln können.

Im Bayerischen Nationalmuseum in München wird dieses luministische Erweckungswunder zum überwältigenden Ereignis. Als im Jahr 2015 der mächtige Westflügel des Museums nach Jahren der Sanierung und Neuordnung endlich wieder fürs Publikum geöffnet wurde, staunten die Besucher über die zahllosen Objekte allerersten Ranges aus den Epochen Manierismus, Barock und Rokoko, die im gezielten Licht der versteckten Leuchtkörper zu neuem Leben erwacht waren: Holz- und Bronzeskulpturen der bedeutendsten Meister, Prunkmöbel, Goldschmiedearbeiten, Musikinstrumente, Waffen, Spieluhren und mechanische Wunderwerke, deren ausgeklügelte Effekte in Medienstationen - sie liegen nebenan auf den Sitzen - filmisch vorgeführt und erläutert werden.

Doch auch diese mit Reichtümern prunkende Raumflucht im ersten Ausstellungsgeschoss konnte nur einen Teil dessen zeigen, was das Museum an Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert besitzt. Erst jetzt, drei Jahre später, ist die niederschmetternde Fülle dessen, was aus Wittelsbachischen Sammlungen an barocken Schätzen im Nationalmuseum zusammengekommen und dort durch Stiftungen und Ankäufe motivisch klug ergänzt worden ist, in all ihren Facetten zu erleben. Von diesem Donnerstag an werden die Räume im oberen Stockwerk des Westflügels erstmals wieder für Besucher geöffnet. Die Ausstellungsflächen für die Kunst des Barock und für die Spitzenwerke des bayerischen Rokoko haben sich also über Nacht verdoppelt.

Betritt man den wiedereröffneten Trakt vom zentralen Treppenhaus aus, taucht man in eine Schatzkammer von atemberaubender Formenvielfalt und einheitlich strahlendem Glanz ein. Die Sammlung nachmittelalterlicher Elfenbeinkunstwerke gehört zu den reichsten der Welt. In Vitrinen, die man großenteils umschreiten kann, wachsen die Wunderwerke der Drechselkunst und die unbegreiflich detailgenau geschnitzten Skulpturen unter dem sanft modellierenden Seiten-,Ober- oder Unterlicht zu einer haptischen Lebendigkeit heran, dass man glaubt, die Stücke mit den Fingern ertasten zu können. Das makellose Weiß und die schimmernde Glätte des Elfenbeins gewinnen eine magische Kraft. Neben den aberwitzig komplizierten, turmartig sich hochschraubenden Drechselarbeiten, die teilweise von den Fürsten selber an ausgeklügelten, während der Arbeit in mehrere Richtungen verstellbaren Drehbänken hergestellt worden sind, verblüffen vor allem die dynamisch den Raum durchwirbelnden Kleinplastiken den Betrachter. Georg Petel hat in seiner 1624 geschnitzten Skulptur "Herkules bezwingt den Nemeischen Löwen" auf geradezu drastische Weise plastisch umgesetzt, was er bei seinem Freund Peter Paul Rubens in Antwerpen an Anregungen mitgenommen hat. Herkules, der Koloss, sitzt rittlings auf dem Löwen, allerdings ganz unpraktisch nach hinten zum Schwanz gewandt. Doch er hat den Oberkörper so athletisch gedreht, dass er mit den muskelbepackten Armen der Bestie die Kiefer auseinanderreißen kann.

Von dem um 1750 in München-Haidhausen tätigen Elfenbein-Bildhauer Simon Troger, der geschickt exotische dunkle Hölzer und andere Kontrastmaterialien in seine sprudelnden Szenerien einbaute, sind gleich mehrere lebendige Kompositionen vorhanden. Sein braun gegürteter weißer Pluto entführt Proserpina auf einem dreirädrigen Wagen aus dunklem Schlangenholz und vergoldetem Kupfer. Dieser Wagen hat die Form eines Schiffes und ist üppig mit weiß schimmernden Putten und quirligem Meeresgetier bevölkert.

Die verblüffendsten Illusionen aber erlebt man vor den Bildkästen, die der Düsseldorfer Elfenbeinschnitzer Ignaz Elhafen kurz nach 1700 offenbar in Serie gefertigt hat. Er hat vielfigurige historische oder mythologische Szenen wie Reliefs in den Elefantenzahn geschnitzt und dabei im Bildrechteck hinter die Figurentumulte millimeterdünne Rückwände aus Elfenbein gesetzt, auf denen sich im subtilsten Relief ganze Stadtansichten oder Gebirgslandschaften abzeichnen. Setzt man sie, wie jetzt im Museum, vor Lichtquellen, bekommen sie, obwohl die Schichten, in denen das Geschehen abläuft, nur wenige Millimeter dick sind, eine dramaturgisch wirksame, luministisch gestufte Tiefe. Die erschließt nicht nur die dritte Dimension, sondern suggeriert fast eine vierte.

Der größte Teil der neu erschlossenen Räume ist der Entwicklungsgeschichte der keramischen Techniken im Barock und Rokoko gewidmet. Hier staunt man über den Formen- und Farbenreichtum, den süddeutsche Fayence-Meister, die das Konkurrenzmaterial Porzellan nur aus Kopien kannten, in dieser Zeit entwickelt haben. Dann erlebt man in beeindruckender Dichte die plastischen Wunder, die durch das endlich auch in Deutschland erfundene idealweiße Material Porzellan möglich wurden. Meißen, aber auch die Wittelsbacher Werkstätten in Nymphenburg und Frankenthal werden mit zahlreichen Spitzenwerken gefeiert.

Ein Raum ist den Luxusmöbeln von Abraham und David Roentgen gewidmet, die mit aufwendigen Marketerien aus exotischen Hölzern und mit mechanischen Raffinessen prunken. Und je ein Kabinett ist für die galante Kleidung der Epoche und für die Kultformen der Jagd reserviert. Die imposanteste Installation ist aber in jenem Riesensaal eingerichtet, in dem bisher der Museumsrundgang recht düster endete. Jetzt erstrahlt unter dem fürstlichen neuen Licht auf einer schier endlosen Tafel das vollständigste erhaltene Silberservice des 18. Jahrhunderts. Es ist für einen Hildesheimer Fürstbischof geschaffen worden - und macht wohl am eindrucksvollsten klar, wie höfischer Luxus um 1750 aussah.

© SZ vom 28.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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