Aus der Zeit der Großeltern:Ich saß ganz still

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Die 11-jährige Lotte kommt nach dem Krieg von Berlin aus in ein kleines Dorf und erlebt dort die schwierige Aufbauzeit, die den Kindern aber auch Freiheit lässt.

Von Ralf Husemann

Es ist alles andere als eine heile, aber es ist trotzdem auch eine schöne Welt. Oder, um mit den Worten der Ich-Erzählerin, der elfjährigen Lotte, zu sprechen: "Es ist das größte Glück der Welt, dass wir hier gelandet sind. Auch wenn es das größte Unglück der Welt ist, das uns hergebracht hat: der Krieg." Lotte, ihr ein Jahr älterer Bruder Paul und ihre Mutter haben, als ihr Vater Soldat werden musste, Berlin verlassen und sind in ein kleines Dorf gezogen. Dort lebt ihre Tante, deren Mann gefallen ist, mit zwei Kindern in einem Forsthaus. Hier wird es freilich bald noch enger, Lottes Vater schlägt sich irgendwann zu ihnen durch, dann zieht eine neue Försterfamilie ins Erdgeschoss, es finden sich die Großeltern ein, die unter dem Dach Unterschlupf finden, und dann kommt noch ein Schwesterchen auf die Welt.

Der Autorin Anke Bär (Jahrgang 1977) ist ein erfrischendes, überhaupt nicht betuliches Buch gelungen, dessen Lektüre Alt wie Jung gleichermaßen Spaß machen kann. Dabei gibt es nicht eben wenig Probleme: das knappe Geld, ein Alkoholproblem des Vaters, der Opa, der erst durch eine "Weihnachts-Amnestie" entnazifiziert wird, Nachbarn, die geizig, neugierig oder bösartig, und Lehrer, die autoritär und seltsam sind. Da sind aber auch eine emanzipierte, freche Patin, die liebevolle Mutter und nicht zuletzt Lottes originelle Freunde und ihr eher etwas ängstlicher Bruder Paul. Anke Bär verliert nie ihren lockeren, unprätentiösen Ton. Etwa wenn Lotte ihre einjährige Schwester beschreibt: "Bott, bott, bott, gluckste Tilla, wippte auf und ab und klatschte in die Hände. Bestimmt hat sie zuerst die Hühnersprache gelernt, damit sie sich wenigstens mit den Hühnern unterhalten kann." Oder wenn sie über ihren Großvater sagt: "Im Ersten Weltkrieg haben sie ihm den Namen Eiserner Hans gegeben, damals war er Offizier oder so etwas Ähnliches (...) Die Manschettenknöpfe hat er allerdings gegen Pfeifentabak eingetauscht. Ganz so eisern ist er wohl doch nicht."

Die studierte Kulturwissenschaftlerin und Illustratorin streut zudem in den Text ihre klaren Bleistiftzeichnungen. Und bei allen kleinen und größeren Abenteuern vergisst sie nie die Schönheit der Natur: "Das Sonnenlicht fiel durch das junge Buchenlaub und zeichnete verschlungene Muster auf den Waldboden. Es roch so gut nach trocknender Erde, und die vielen Buschwindröschen verströmten ihren leisen Frühlingsduft (...) Ich saß ganz still." Nicht umsonst hat Bär auch "Ästhetische Praxis" studiert, das hat nicht nur mit Kunst zu tun, sondern eben auch mit sinnlichen Wahrnehmungen.

Um die inzwischen schon 70 Jahre entfernte Zeit besser verstehen zu können, werden im Anhang ein paar geschichtliche Daten geliefert, historische Museen, passende Kinder- und Jugendbücher vorgestellt und schließlich persönliche Erinnerungsstücke und alte Fotos gezeigt. Sie stammen teilweise von der Familie der Autorin, deren Erlebnisse den Anstoß zu diesem Buch gegeben haben. (ab 9 Jahre)

Anke Bär : Kirschendiebe oder Als der Krieg vorbei war. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2018. 208 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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