Artrock:Paranoide Trostmusik

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Sogar bei Radiohead klang die Verzweiflung selten drastischer, selten aber auch wärmer als auf ihrem neuen Album.

Von Torsten Gross

Man kann ja kaum noch so schnell hören, verarbeiten und vor allem: schreiben, wie nun ständig aus dem scheinbaren Nichts über Nacht irgendwelche Alben veröffentlicht werden. Aber Radiohead haben diese Guerilla-Disziplin wenn schon nicht erfunden, so doch mindestens popularisiert, weswegen es natürlich absolut folgerichtig ist, wenn jetzt nach Beyoncé, Drake und James Blake diese verrückten 14 Internet-Tage mit einem neuen Album von, genau: Radiohead zu Ende gehen. Zumal man es in diesem Fall sowieso nicht anders erwartet hatte. Seit Monaten war klar: Da kommt etwas. Und wenn es kommt, dann sicher nicht auf die gute alte Heute-ist-Freitag-es-gibt-ein-neues-Radiohead-Album-die-ganze-Stadt-ist-bereits-zuplakatiert-Art.

Nun ist es also da. Bereits Tage vorher hatte die Band die Inhalte ihrer sämtlichen Online-Profile gelöscht, eine neue Single und ein Video veröffentlicht, schließlich ein neues Album angekündigt. Sonntag, kurz vor dem "Tatort" war es dann so weit. Schöner Titel, "A Moon Shaped Pool" (XL/Beggars), klar, was auch sonst: ein mondförmiger Pool, logisch. Und wie klingt ein solcher Pool? Natürlich verwunschen! Radiohead führen auf ihrem neunten Album eine geisterhafte Schwebemusik auf, vorzüglich arrangiert, mit Engelschören versehen, wie in der großartigen Elegie "Decks Dark". Zauberhaft hingetupfte Melodien, die sich auf rätselhafte Weise in einem Zustand des Unkonkreten zu befinden scheinen, mit beinahe jazzhaft offenen Bezügen, krautrockartigen Jams und dem zu jedem Zeitpunkt absolut geschmacksicher arrangierten London Contemporary Orchestra. Insgesamt elf Songs, die so sind wie die Gedanken in den tiefsten Stunden der Nacht zwischen Wachen und Schlaf. Also dann, wenn alles viel bedeutender und Furcht einflößender erscheint als am Tag. Dadurch aber irgendwie auch: wahrhaftiger.

Radiohead bei einem Konzert in London. (Foto: Jim Dyson/Getty)

Das sind also erst mal sehr gute Nachrichten, denn man konnte durchaus Angst haben vor diesem Album. Von "The Bends" bis einschließlich "Hail To The Thief" hatten Radiohead fünf Alben lang einen Lauf, wie es ihn nicht so oft gibt im Pop. Danach verloren sie ein bisschen die Orientierung. "In Rainbows" war sehr schön, am Anspruch dieser Band gemessen aber beinahe Repertoirepflege. Es war die Zeit, in der die sogenannte Veröffentlichungsstrategie von Radiohead interessanter war als das dann tatsächlich Veröffentlichte. "The King Of Limbs" 2011 war dann erstmals ein ziemlich schwaches Radiohead-Album, auf dem die Anleihen bei Minimal und Dubstep nicht aufregend und experimentell, sondern eher vorgestrig wirkten.

Es ging und geht ja hier nach wie vor nicht zuletzt darum, die Grenzen der Rockmusik hinter sich zu lassen. Wenn bei einem solchen Vorhaben aber die Souveränität fehlt, wird es schnell anstrengend. Der alte Vorwurf der Biestigkeit, von Rockfreunden bereits seit dem Ende der Neunziger vorgebracht, traf irgendwann tatsächlich zu. Lustiger Randaspekt übrigens: Je mehr Thom Yorke sich von der Rockmusik abwendet, desto mehr nähert er sich optisch dem Klischeebild eines Siebzigerjahre-Pub-Rocksängers mit schmalzig langen Haaren und Vierwochenbart.

Letzteres lässt sich wunderbar überprüfen in einem fantastischen Video des Filmemachers Paul Thomas Anderson zum neuen Song "Daydreaming", in dem Yorke reichlich entfremdet durch zunehmend skurrile Alltagssituationen wankt, um schließlich über eine leuchtende Winterlandschaft in einer Höhle am wärmenden Feuer zu landen. Im Prinzip steht dieses Video für das Grundgefühl der ganzen Platte. Natürlich fühlten sich Radiohead noch nie dem reinen Frohsinn verpflichtet, aber die Wucht der Trauer, der Verzweiflung, eventuell sogar der Resignation im Angesicht einer aus den Fugen geratenen Welt, haben sie selten zuvor mit so einer Drastik vermittelt wie auf "A Moon Shaped Pool". "A low flying panic attack" heißt es in "Burn The Witch", der ersten Single. Es geht um Donald Trump und das Elend der Flüchtlinge, um Kriege und Verteilungskämpfe. Weil aber niemand es fertigbringt, eine an sich paranoide Angstmusik mit so viel Wärme aufzuladen, sind "Desert Island Disk", das grandiose "Identikit" oder "The Numbers" zugleich die schönste Trostmusik.

Einige der neuen Lieder könnten einem bekannt vorkommen. Die das Album abschließende Klavierballade "True Love Waits" wurde bereits 1995 für "The Bends" in Erwägung gezogen, erschien später in einer Live-Version. Und auch "Burn The Witch" mäandert seit Jahren unvollendet durch den Radiohead-Kosmos. Nun gelang es der Band gemeinsam mit Dauerproduzent Nigel Godrich erstmals und endlich, überzeugende Versionen dieser Songs auszuarbeiten. Eines dieser lange Zeit gereiften Lieder heißt lustigerweise "Present Tense" und ist genau das: total hier und jetzt, gleichzeitig aber auch potenziell zeitlos, also so, wie die allerbeste Musik eigentlich immer klingen sollte.

Die Frage, was übrig bleibt, nachdem man alles schon mal probiert hat, haben Radiohead damit vorbildlich beantwortet. Der komische Zwischenzustand, in dem die Band sich befand, ist beendet. Auf seine Art ist "A Moon Shaped Pool" also so radikal und wegweisend wie seinerzeit das "Kid A".

© SZ vom 10.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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