Argentinische Literatur:Nerds im Dschungelfieber

Lesezeit: 3 min

Pola Oloixarac schlägt in ihrem Roman "Kryptozän" ein Erzähltempo an, das ihre Figuren und die Leser schwindlig macht. Sie traut weder den Tricks der Nerds noch den Frauen, die sich in sie verlieben.

Von Ralph Hammerthaler

Oh, in den Höhlen liegen Frauen in Hängematten, "vollkommen nackt, wie geöffnete Blüten". Es heißt, sie hätten das Bewusstsein verloren und wären in einen tagelangen Schlaf gefallen. "Die Männer konnten nach Belieben ein- und ausgehen. Im Vorraum waren Orchideen zu bewundern." Was hat Pola Oloixarac da nur für ein Buch geschrieben? "Kryptozän" ist ein halluzinierter Naturforscherroman, ein Roman über totale Kontrolle, noch dazu ein Roman über Nerds und Frauen, die Nerds lieben lernen, weil sie Computer-Probleme lösen. Die Geschichte spannt sich vom Ende des 19. über das Ende des 20. Jahrhunderts bis ins Jahr 2024. Beim Lesen scheint nichts näher zu liegen als der Kollaps.

Wo genau die Höhlen mit den nackten Frauen sind, verrät die argentinische Autorin nicht. Aber sie bringt den jungen Botaniker Niklas Bruun ins Spiel, der mehr spekuliert als analysiert, kurz, er wird nicht ganz für voll genommen. Im Gebiet des Amazonas entdeckt er Pflanzen, die niemand kennt in der seriösen Zunft. Vielleicht sind seine Zeichnungen im Drogenrausch entstanden, oder das Dschungelfieber hat ihn gepackt. "Kryptozän" ist ein rauschhaftes Buch. Zum Glück unterliegt Literatur keiner Doping-Kontrolle.

Das Buch ist äußerst bescheiden ausgestattet, Klappenbroschur in Grau, gerade so, als wüssten sie im Verlag nicht so recht, ob damit nun Literatur vorliegt oder nicht. Diesen Zweifel nimmt man ihnen gern, denn das riskante erzählerische Spiel sticht das kalkuliert Konventionelle mit Leichtigkeit aus. Wieder ist es Literatur aus Argentinien, die das Gefällige und Gefallsüchtige unterläuft. Der Name Pola Oloixarac macht sich gut neben Lucía Puenzo, Hernán Ronsino und César Aira.

Im Netz sind Fotos von ihr zu finden, die an ein Model denken lassen. Und wenn die Autorin Cassios Mutter beschreibt, hält man es für ein Selbstporträt, "eine wunderschöne Frau mit feinen, zerbrechlichen Zügen". Cassio selbst ist hier der Supernerd, Internet-Junkie, von früh an auch Hacker. Ohne eine Spur zu hinterlassen, hackt er für Kriminelle. Wer gut im Kryptischen ist, ist auch gut für den Staat, der mittels neuer Technologie die Chance erkennt, alles und jeden auszuspionieren. Natürlich ist es reiner Zufall, dass dieser Roman zur selben Zeit auf Deutsch erschien, als der "Snowden"-Film in die deutschen Kinos kam.

Trotz des rapiden Tempos erzählt Oloixarac kühl, schnittiger gesagt, mit Coolness. Beim pubertierenden Cassio lässt sie "das Fleischwürmchen" sich aufrichten, sobald er irgendwelche weiblichen Pobacken erspäht. Aber auch für Frauen hat sie wenig mehr als Spott übrig. Wir befinden uns unter Nerds: "Hartnäckig hielt sich die Vorstellung, dass das Auftauchen von Frauen notwendigerweise den unaufhaltsamen Niedergang einläutete: Ihre Anwesenheit deutete für gewöhnlich darauf hin, dass die revolutionäre Phase eines Unternehmens zu Ende gegangen war." Der Rest sei Normalisierung und Mittelmäßigkeit.

Wie schon Niklas Bruun ist auch Cassio von einem Schuss Forschungswahnsinn befallen, der aber letztlich die Dinge vorantreibt. Alles wird ausprobiert, egal, ob moralisch korrekt oder nicht. Hinter ihren glorreichen Taten steckt die Sehnsucht nach Symbiose, bei Bruun zwischen Mensch, Tier und Pflanze, bei Cassio zwischen Mensch und Maschine.

Er lässt sich anheuern für ein Projekt zur Sammlung aller genetischen Daten Lateinamerikas. "Angefangen mit dem ersten im Jahr 2012 geborenen Baby archivierte Argentinien die biometrischen Daten der Neugeborenen in einer Datenbank, die schnell auf Millionen von Einträgen anwuchs. An solche Kontrollen durch die Regierung schloss sich die Überwachung von Netztechnologien wie Telefone, Kreditkarten und das öffentliche Transportwesen an und erzeugte so 'Lebenslinien', Chroniken jedes Einzelnen und seiner geolokalisierten Bewegungen, die vom PROJEKT und dem Planministerium gesammelt und gespeichert wurden."

So fantastisch es auch klingt, dieses Projekt könnte über kurz oder lang realisiert werden. Im Netz stellt sich ein daran beteiligter Wissenschaftler namens Florencio Bormajer den Fragen von Alexander Kluge. Ein "Archiv der Menschheitsgeschichte" schwebe ihm vor, ein Instrument der totalen Symbiose. Bormajer sagt, das Projekt bewege sich zwischen Biologie und Informatik; er sagt auch, dass dazu ein Monster von einem Rechner nötig sei. Als Spezialisten hätten sie ehemalige Hacker gewonnen. Aber Vorsicht. Kluges Stimme aus dem Off klingt ein bisschen zu jung, und das dctp-Logo seiner Web-TV entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als bctq. Alles Fake also, wenn auch ein gut gemachter Reklame-Trailer, der die Wahrheiten des Romans in einer dctp-Parodie spiegelt.

Cassio, der ehemalige Hacker, tut alles, um das benötigte Monster zu erschaffen. Und kurz darauf nicht weniger, um es zu zerstören, und zwar durch Schläferzellen, sogenannte Soft Bots. Der Hacker kehrt zurück. In seiner Jugend trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift "Hacker oder Beherrschte?". Man muss sich entscheiden.

Pola Oloixarac: Kryptozän. Roman. Aus dem Spanischen von Timo Berger. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 192 Seiten, 20 Euro. E-Book 17,99 Euro.

© SZ vom 17.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: