Architektur:Von Zelle zu Zelle

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Die Kapsel als Schutzraum ist seit Jahrzehnten Kern architektonischer Zukunftsvisionen. Deren Ideen verknüpften sich stets mit großen Versprechen: auf mehr Demokratie - und mehr Freiheit.

Von Till Briegleb

Aktuell sitzen wir alle in unserer Heimzelle, damit die bösen Igelviren nicht in unsere Körperzellen eindringen. Manche erleben das wie Gefängnishaft, andere wie Besinnungsurlaub. Aber allgemein vermittelt der Begriff Zelle gerade eher ein Gefühl von Schutz. Beängstigende Außeneinflüsse sollen vor der Hausmembran gestoppt werden. Das abgeschottete Zellinnere verspricht Sicherheit. Dieses Bild des Menschen als Kern einer geschlossenen Kapsel ist seit langer Zeit auch Kern futurologischer Fantasien. Als utopischer Entwurf geisterte die Hauszelle, die sich mit anderen Hauszellen zu einem Organismus verbindet, im letzten Jahrhundert durch diverse Avantgardebewegungen. In der Regel versehen mit stürmischem Zukunftsoptimismus und großen Versprechungen: mehr Selbstbestimmung, Demokratie, Erleben und Freiheit.

Schon rein äußerlich lassen sich futuristische Entwürfe meist an ihrer zellulären Erscheinung erkennen. Von Étienne-Louis Boullées gigantischem Kugelmonument für Isaac Newton im Jahr 1784 bis zum Ausklingen der Blob-Architektur um die Jahrtausendwende produzierten Architekten sie in reicher Zahl: Blasen, Dome, Bälle und Schäume vermittelten stets den Eindruck von Zukunftsversprechen. Und ein metaphernsüchtiger Philosoph wie Peter Sloterdijk formte aus diesen Rundungen gleich eine dreibändige Weltverklärung mit dem Titel "Sphären".

Im Pandemienotfall wirken gebaute Blasen allerdings neu. Das Kunsthaus in Graz von Peter Cook sieht mit seinen Noppen wie ein Coronavirus aus. Auch die Allianz-Arena von Herzog de Meuron muss man nicht unters Mikroskop legen, um in dem Ring einen Zelldurchschnitt zu erkennen.

Zurück geht die Begeisterung für die Zellblase in der modernen Architektur vermutlich auf die berühmten geodätischen Kuppeln, die der amerikanische Stammvater des Organo-Techs, Buckminster Fuller, ab den Vierzigern für Weltausstellungen und neue Habitate entwarf. Die meist durchsichtigen Riesenkugeln aus Dreieckselementen schufen stark suggestive Vorbilder für die sprudelnden Einfälle späterer Generationen. Etwa für die vielfältige "Biotektur" des deutschen Ingenieurs Rudolf Doernach, der ab den Fünfzigern die Zellform als ökologische Alternative zur modernen Wohnmaschine entwickelte, oder für die pneumatische Stadt von Gernot Nalbach aus dem Jahr 1966, die trotz ihrer technoiden Megaform an dürre Äste mit Insektenkokons erinnerte.

Besonders populär wurden die transparenten Blasen in den Siebzigern durch die Wiener Künstlerarchitekten von Haus-Rucker-Co. Die erdachten sich in der Hochzeit der Pop-Avantgarde, wo Gruppen wie Archigram ganze Städte als wandernde Milben zeichneten, Schutzzellen gegen die virale Überinformation der Warenwelt. Ihre kontemplativen "Bewusstseins-Erweiterer" planten sie in allen Größen: vom "Fliegenkopf" zum isolierten Hausgebrauch bis zur Schneekugel für eine ganze Stadt. Bei großen Kunstveranstaltungen wie der documenta 1972 ließen sie ihre Plastikzellen als "Oase" auch schon mal aus der Museumsfassade herausquellen.

Auch bei Stadtvisionären war der Weltraum irgendwann dann das neue Wohnzimmer

Die wichtigste Bewegung für zelluläre Architektur nannte sich sehr treffend Metabolismus, also Stoffwechsel. Die japanische Avantgardegruppe, die sich Ende der Fünfziger um Kenzo Tange, Kiyonori Kikutake, Kishō Kurokawa und Fumihiko Maki bildete, wollte das urbane Wachstum aus dem biologischen heraus verstehen und entwickelte dazu Großstrukturen, an die sich Kapseln andocken, aber auch wieder abkoppeln sollten. Obwohl dieses Konzept nie mehr als symbolisch funktionierte (etwa in dem berühmten Nakagin Capsule Tower von Kurokawa mit fest installierten Wohnwürfeln oder bei dem temporär bestückten Dachträger auf der Weltausstellung in Osaka 1970), fasziniert die Idee vom städtischen Skelett als Basis mobiler Zelleinheiten Urbanisten bis heute.

Ihre Euphorie gewann die Idee organischen Stadtwachstums aus der Verbindung zum aufregendsten Zukunftsprojekt der Nachkriegszeit, der Raumfahrt. Die Zelle als Schutzraum im All fand nicht nur im Science-Fiction ihr ästhetisches Vorbild in der Biologie. Helme, Ufos und Städte wirken oft vom anatomischen Atlas inspiriert. Auch bei Stadtvisionären war der Weltraum das neue Wohnzimmer. Das Metabolismus-Manifest "Capsule Declaration" von Kurokawa von 1969 beginnt programmatisch mit den Sätzen: "Die Kapsel ist Cyborg 1 Architektur. Mensch, Maschine und Raum bilden einen neuen organischen Körper, der Konfrontationen überwindet."

Es ging in dieser optimistischen Epoche also um die genügsame Verschmelzung von Technik und Bedürfnissen. Das Ziel der Prophezeiungen war die Selbstoptimierung als Menschmaschine in voll ausgestatteten Kunststoff-Amöben (wie der Streaming-Mensch sie 2020 in seinem Hausarrest mit Mikrowelle endlich konkret erlebt). Seit den Fünfzigern wurden dazu voll automatisierte Wohneinheiten konzipiert, und das Industriedesign zeugte schnell Prototypen, etwa 1956 das "House of the Future" von Alison und Peter Smithson. In den extremsten Zukunftsträumen bevölkerten dann selbstversorgende Vagabunden in autarken Modulen gigantische Strukturen über den Köpfen der armen Restmenschheit.

Das Kunsthaus in Graz von Peter Cook sieht mit seinen Noppen so aus wie wir uns das Coronavirus vorstellen. (Foto: imago images/VWPics)

Doch die zahlreichen groß dimensionierten Entwürfe von Trägerstrukturen für Kapseln auf Land und Wasser, die Metabolisten und ihre europäischen Freunde wie Yona Friedman und Moshe Safdie als Ersatz für die historische Stadt erfanden, sahen in der Regel leider aus wie gigantische Bienenkörbe für standardisierte Wohnwaben. Irgendwie unbehausbare Seelenlager, herrische Ordnungssysteme mit dezent faschistoider Anmutung. Hier fanden sich die Vorbilder für die dystopischen Moloche des Hollywood-Kinos, wo die Wohnzelle den Lebensraum für einsame Helden liefert, die gegen die Totalkontrolle von Staat oder Konzernen kämpfen.

Städte sollten zu Funktionsregalen werden, in die Bewohner ihre Wohnungen frei einbauen durften

Doch das Modell von mobilen Wohnzellen fand auch zu sehr viel freundlicheren Versprechungen. Junge Architekten in Holland und Belgien entwickelten Anfang der Sechziger die Idee von Skelett und Zelle als Projekt der Mitbestimmung, das man zu keinem dystopischen Comic verarbeiten konnte. 1961 erschien das Buch "Der Träger und die Menschen" von John Habraken, in dem er forderte, dass Städte nur noch aus neutralen Funktionsregalen bestehen sollten, in die Bewohner nach eigenem Geschmack ihre Wohnungen einbauen. Zurück ging diese Idee auf einen Plan Le Corbusiers für Algier von 1931 mit dem treffenden Titel "Obus" (Granate). Der bestand aus einem kilometerlangen Hochhausband ohne Inhalt, das quer durch die bestehende Stadt gebrochen wurde und in dem sich 180 000 Bewohner dann architektonisch selbst verwirklichen sollten.

Unter dem Stichwort Strukturalismus formierte sich in den Sechzigern dann eine Bewegung nach "Obus" und Habraken, die diese Trennung von Rohbau und Einbau als basisdemokratisches Zellmodell von Stadt propagierte. Herman Hertzberger in Holland und Lucien Kroll in Belgien waren die bekanntesten Vertreter dieser neuen Planungsphilosophie, die allerdings einen entscheidenden Denkfehler hatte. Die Selbstverwirklichung des Wohnungsbauers in dem neutralen Raster betraf nur die erste Generation der Beteiligten. War das Patchwork einmal fertig, erstarrte es zum architektonischen Ausdruck seiner Epoche, das spätere Bewohner genauso zwang, sich damit zu arrangieren, wie jede andere Stadt.

Trotzdem erlebt diese Idee der Emanzipation des Bewohners vom Architekten zuletzt wieder eine große Zellteilung. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena etwa entwarf Wohnstrukturen für Arme, die sie selbst ausfüllen sollten wie eine geordnete Favela. Und das Kölner Büro BeL Sozietät verfolgt ein Konzept namens "Grundbau und Siedler", das Käufern wie Mietern nur die Struktur hinstellt, in die sie dann individuell ihr Eigenheim bauen können.

Allerdings sind diese Zellhaufen sehr pragmatische Operationen, denen die ausschweifende Fantasie der Utopisten genauso abgeht wie ihr Blasendesign. Doch angesichts der Erfahrung, dass die meisten Utopien sich auch in der Architektur schnell als Dystopien entpuppen, ist diese Idee organischen Bauens die menschliche Version des Metabolismus. Und sie sieht auch nicht aus wie eine Krankheit.

© SZ vom 28.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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