Rekonstruktion der Paulskirche:Pantheon der Demokratie

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Blick in den heutigen Saal der Frankfurter Paulskirche. (Foto: Moritz Bernoully)

Warum der Wunsch nach Rekonstruktionen in der Stadt Frankfurt, die im Zweiten Weltkrieg total zerstört worden ist, besonders groß ist, und warum die Paulskirche trotzdem nicht umgebaut werden darf.

Von Gottfried Knapp

Wer sich im Historischen Museum von Frankfurt vor den Stadtmodellen klargemacht hat, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in der Frankfurter Altstadt nur noch die Außenmauern des Doms und der Paulskirche und die Fassaden einiger Wohn- und Geschäftshäuser aufrecht standen, das malerisch verwinkelte Stadtbild mit seiner einzigartigen Fülle origineller Fachwerkhäuser also restlos ausgelöscht war, der wird verstehen, dass die Stadt in den frühen Achtzigern wenigstens ihrem Hauptplatz wieder etwas vom verlorenen Glanz zurückgeben wollte. So zog man am Römerberg die Fassaden der fünf Fachwerkhäuser, die einmal die Ostzeile gebildet hatten, weitgehend originalgetreu wieder in die Höhe, stellte also dem Wahrzeichen der Stadt, den drei Giebelfassaden des Römers, etwas Vergleichbares gegenüber und gab so dem schlecht gefassten Platz wieder eine erkennbare Gestalt, ja man schirmte ihn wirkungsvoll gegen das Chaos der dahinter hingeklotzten Nachkriegsbauten ab.

Der Erfolg dieser kosmetischen Operation im Gesicht der Stadt - von einer Rekonstruktion konnte angesichts der historisch maskierten Betonwände kaum die Rede sein - war so nachhaltig, dass seither in der Stadt ständig über die Rückgewinnung weiterer Altstadtteile nachgedacht wird. Am schlüssigsten waren die Überlegungen, den nach dem Krieg von öffentlichen Neubauten brutal verstellten Raum zwischen Römerberg und Dom wieder einladend zu gestalten und dabei die beiden auseinandergesprengten historischen Zentren der Stadt, den Dom und das Rathaus, wieder miteinander zu verbinden.

Chancen hatte dieser Vorschlag freilich nur, weil der in den Siebzigern dort errichtete klobige Monsterbau des Technischen Rathauses von niemandem wirklich geliebt wurde, also guten Gewissens abgerissen werden konnte. Dennoch waren noch viele Planerrunden fällig, bis die Stadt sich zur exakten Rekonstruktion des gesamten Dom-Römer-Quartiers entschloss.

Frankfurt besitzt jetzt also eine Disney-Version seiner eigenen Altstadt

Vor einem Jahr wurde das neue Altstadtquartier eröffnet. Nun endet die historische Schaufront am Römerberg nicht schon nach fünf Häusern, nein, sie biegt am Nordende um die Ecke, führt hinein in das neue Quartier, das auf den historischen Grundrissen errichtet worden ist. Die einzelnen Häuser wurden alle mit Stahlbeton hochgezogen. Den prominent gelegenen wurden die Fassaden der Vorkriegszeit übergestülpt, die übrigen mussten zumindest ein steiles Satteldach und eine Giebelfront aus rotem Sandstein oder aus sandsteinrotem Beton vorweisen.

Blick in den heutigen Saal der Frankfurter Paulskirche. (Foto: Moritz Bernoully)

Das Ergebnis ist recht unterschiedlich zu beurteilen. Dass die Marktgasse zwischen Dom und Römer, der alte "Krönungsweg", wieder offen ist, und dass daneben ein in allen Details wiederhergestelltes Plätzchen, der "Hühnermarkt" mit seinen einmündenden Gassen, wieder eine Ahnung gibt vom pittoresken Reiz der Geburtsstadt Goethes, ist durchaus als Gewinn zu registrieren. Die Stadtführer Frankfurts können den herbeiströmenden Touristen jetzt endlich eine selfietaugliche Traummeile bieten. Aber wer soll in die Puppenstuben einziehen, die über den Touristenkneipen und Andenkenläden bis unter die Steildächer gestapelt sind? In ihnen lässt sich weder vernünftig wohnen noch arbeiten. Frankfurt besitzt jetzt also eine Disney-Version seiner eigenen Altstadt. Und die Welt staunt über die Besuchermassen, die sich in der klaffenden Touristenfalle wie in einer besseren Welt vorkommen.

Dass der Wunsch nach Rekonstruktion verloren gegangener Bauten im ehemals total zerstörten Frankfurt besonders dringlich verspürt wird, ist aus der Nachkriegsgeschichte also gut zu erklären. Man könnte darum das Dom-Römer-Quartier mit seinen nagelneuen Mittelalterhäusern, mit dem frisch überbauten Archäologischen Garten und mit dem allseits hinderlichen postmodernen Monument der Kunsthalle Schirn auch als eine Außenstelle des nahe gelegenen Historischen Museums betrachten, als einen Lernort, der von den historischen Schichten der Stadt besonders viel erzählen kann und soll. Seit Langem gibt es in der Stadt aber auch Bestrebungen, die im Krieg schwer beschädigte und direkt danach in kürzester Zeit in schlichten Formen wieder aufgebaute Paulskirche in den Vorkriegszustand zurückzuversetzen oder in einem historischen Idealstil, wie es ihn nie gegeben hat, zu rekonstruieren. Die Betreiber dieses Vorschlags bedienen sich gerne der Worte, die 1948 der Direktor des Historischen Museums für die modern wieder aufgebaute, innen mit einem Sockelgeschoss versehene Paulskirche gefunden hatte: "Unten Radrennbahn, oben Gasometer, mehr lässt sich nicht verderben."

Die Rekonstruktionsaktivisten stören sich also vor allem an dem heute wunderbar leeren hohen Innenraum und an dem flach darüber gewölbten Dach. Sie verlangen zumindest die alten Emporen und das mächtig aufsteigende Kuppeldach zurück. Wie wirr sie sich dabei der Historie bedienen, und was für ein einzigartiges Monument der deutschen (Nachkriegs-)Geschichte und des deutschen Geisteslebens sie dabei zerstören würden, macht die sachlich kluge Ausstellung "Paulskirche. Ein Denkmal unter Druck" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt bis 16. Februar mit schöner Bestimmtheit deutlich.

Als 1782 der Rat der Stadt Frankfurt beschloss, die baufällige Barfüßerkirche abzureißen und an ihrer Stelle eine neue evangelische Kirche zu bauen, schlug der greise Stadtbaumeister Johann Andreas Liebhardt eine im Barockstil überkuppelte Emporenkirche vor. Da Liebhardt aber kurz nach Baubeginn starb, vereinfachten die Nachfolger die Pläne im aktuellen klassizistischen Stil und bauten unter das nun viel zu hohe barocke Dach einen flach gedeckten, deutlich niedrigeren Kirchenraum, der aber offenbar nicht dringend benötigt wurde, jahrzehntelang halbfertig liegen blieb und erst 1833, also 45 Jahre nach Baubeginn eingeweiht werden konnte.

Als dieser für die Gemeinde offensichtlich viel zu große ovale Saal - er bot allein auf der umlaufenden Empore 2000 Leuten Platz - im Zug der Revolution von 1848 zum Tagungsort der Nationalversammlung, der ersten Volksvertretung Deutschlands, umgerüstet wurde, stellte man bald extreme akustische Mängel fest. Sie waren nur zu beheben, indem man über der Empore, also unterhalb der oberen Fensterreihe eine mit Stoff bespannte Zwischendecke einzog. Man veränderte den Charakter des Raums also noch einmal radikal. Ein großer Teil des Lichts wurde nun ausgesperrt; der Saal selber aber war nur noch halb so hoch wie der Außenbau. Die Hälfte des Gesamtvolumens unter dem Kuppeldach war jetzt toter, unbenutzbarer Raum.

In dieser verstümmelten Form von 1848 hat die Paulskirche alle Um- oder Rückwidmungen in Richtung Kirche oder Parlamentsgebäude bis zum Zweiten Weltkrieg überdauert. Diese in der Höhe halbierte Kompromissarchitektur mit dem himmelhoch darüber schwebenden barocken Dach heute zurückzuverlangen, ist völlig unsinnig. Die Frankfurter Paulskirche der Vorkriegszeit hat weder den Kirchenbesuchern noch den sporadisch tagenden deutschen Volksvertretern geeignete Raumverhältnisse geboten. Und auch in rekonstruierter Form mit akustischer Zwischendecke würde sie weder als Predigtraum noch als Parlamentssaal ihren Zweck erfüllen. Ja, beim Rückbau würde man eines der prominentesten Baukunstwerke der ersten Nachkriegszeit, ein zylindrisches Raumgebilde von einzigartiger Wirkung vernichten: Die inzwischen 70 Jahre alte Paulskirche hat wie kein anderer Versammlungsort große Momente der deutschen Nachkriegsgeschichte erlebt. Sie ist heute also nicht mehr nur als "Wiege der Demokratie" zu schützen, sondern auch als zentrales Forum des Kulturgeschehens in Deutschland, als bundesdeutscher Festsaal, als Ort geistiger Debatten und kritischer Ausstellungen.

Der Saal in der Paulskirche ist zum zentralen Erinnerungsort der Bundesrepublik geworden

Der 1947 von einem Architektenteam unter Leitung des großen Kirchenbaumeisters Rudolf Schwarz in die leer geräumte Ruine eingefügte schmucklose Saal bringt den dynamischen Schwung des ursprünglich barock gedachten Querovals und der nun von Emporen und Zierrat befreiten kreisenden Wände wieder zu größter Wirkung. Und auch die eindrucksvolle Höhe der ursprünglichen Zylinderkonstruktion mit den fast gotisch hochschießenden Fenstern der unteren Reihe und den von 1848 an weggeblendeten Fenstern der oberen Reihe ist nun erstmals in ihrer bezwingenden Kraft zu erleben, obwohl der Saal nun auf einem niedrigen Eingangsgeschoss aufgesockelt ist.

Steigt man aus diesem Erdgeschoss in den schmucklos weißen Saal hinauf, ist man von der strahlenden Helligkeit und der elegant schweifenden Weite begeistert. Dass die Rotunde sich in die Breite weiter dehnt als in die Länge, verstärkt das Gefühl der Besonderheit. Der Blick wird nicht, wie in historischen Kulträumen, auf ein festes Ziel hin ausgerichtet, er gleitet entspannt an den Wänden entlang und streift wie beiläufig das in das Rund geschmiegte Rednerpodium und die Orgel. Sucht man nach einem Raum mit vergleichbar erhabener Leere und Tiefe, muss man zum Höchsten greifen: Nur das viel größere Pantheon in Rom übertrifft die Paulskirche an erfüllter Weite und Offenheit.

Diesen eindrucksvollen modernen Saal, der zum zentralen Erinnerungsort der Bundesrepublik geworden ist, für den Nachbau einer funktionsuntüchtigen Behelfsarchitektur des 19. Jahrhunderts zu opfern, wäre schlichter Wahnsinn.

© SZ vom 24.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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