Architektur:Luxusstraßenköter

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Arno Brandlhuber ist einer der spannendsten Architekten Deutschlands. Das zeigt ein Besuch in seinem Haus in Berlin-Wedding, das die DIN-Norm erfüllt, aber Gattungen sprengt.

Von Laura Weissmüller

Wer hätte gedacht, dass in Berlin das Ideal von Kurt Tucholsky wahr werden würde. Der dichtete 1927: "Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn - aber abends zum Kino hast dus nicht weit. Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit." Arno Brandlhuber hat es geschafft. Mit seinem Haus im Bezirk Wedding - auch wenn statt der Ostsee eine Autowerkstatt im Blickfeld liegt und statt der Friedrichstraße der Bahnhof Gesundbrunnen, immerhin mit ICE-Anschluss.

Aber was heißt schon Haus? Es ist ein Bau wie ein Gebirge. Mit schwindelerregenden Steigungen, tiefen Terrassen, kaskadenartigen Treppen, atemberaubenden Aussichten und rauer Schönheit. Der urbane Glamour hat in Berlin ein Zuhause.

"Das ganze Gebäude ergibt sich aus der deutschen Treppen-DIN", sagt der Architekt, während er die steile Treppe an einer der beiden Außenkanten des Terrassenhauses emporsteigt. 19 Zentimeter Höhe, 26 Zentimeter Tiefe und ein Neigungswinkel von 35 Grad lautet die Norm für eine Standardtreppe. Dass ihn diese Ziffern nicht einengen, sondern, im Gegenteil, inspirieren, ist einer der Gründe, warum Brandlhuber vielleicht der spannendste Architekt Deutschlands ist. Keiner schafft es so wie er, die deutschen Baugesetze und Normen, dieses absurd dichte Geflecht von Vorschriften, ähnlich kreativ auszulegen.

Von weitem sieht das Terrassenhaus rau, hart, fast grob aus. (Foto: Erica Overmeer)

Das bedeutet nicht, dass seine Gebäude selbstverliebte Luxusspielereien sind. Im Gegenteil. Brandlhuber entwickelt seine Entwürfe fast schmerzhaft scharf entlang der vorgegebenen Realitäten, egal, ob das ein knappes Budget, seltsame Grundstücksgrenzen, ruinöse Vorgängerbauten oder eben die strikten Vorgaben einer Baubehörde sind.

Was dabei herauskommt, gleicht nicht selten einem Manifest. Darüber, dass ein anderes Bauen möglich ist. Eines, das Mauern zwischen Gattungen einreißt. Damit Häuser mehr als eine Aufgabe übernehmen können: Arbeiten und Wohnen und Geselligkeit zum Beispiel - und das alles in Zeiten digitaler Raserei. Die Architekturwelt braucht dringend solche gebauten Experimente. Gerade in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder München passt das Leben nicht zu der gebauten Ödnis der Büro- und Wohnklötze. Weil die Menschen Jobs und Kinderbetreuung teilen, weil sie in Patchwork lieben oder auch im Alter in WGs wohnen möchten. Oder weil sie zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr unterscheiden, zumindest nicht räumlich. Das Leben ist vielfältiger geworden, als es der Standardgrundriss der Nachkriegszeit je vorsah.

"Dieses Gebäude ist wahrscheinlich der erste soziale Kondensator der kreativen Klasse", schreibt El Croquis über das Weddinger Projekt. Das spanische Architekturmagazin gilt als eine der wichtigsten Architekturpublikationen weltweit, nach dem deutsch-englischen Büro Sauerbruch Hutton ist Brandlhuber der erste deutsche Architekt, dessen Werk eine eigene Ausgabe bekam. Eine Hochglanzadelung. Dabei hat Brandlhuber seit seinem ersten Projekt kurz nach dem Studium in Darmstadt, dem Neanderthal Museum in Mettmann 1996, nicht mal zwei Dutzend Gebäude gebaut. Wichtigstes Werkzeug dabei: Kooperation mit anderen. Brandlhuber hat in Netzwerken gearbeitet, lange bevor das Wort in Mode kam. Mit Architekten wie Dorte Mandrup, Jan de Vylder, Muck Petzet oder Christian Kerez, aber auch mit Designern und Künstlern. Vermutlich ist er deshalb an der Gemeinschaft in seinen Häusern so interessiert.

Von vorne aber erkennt man die atemberaubende Kaskade der Stockwerke und Terrassen. (Foto: Erica Overmeer)

Im LoBe, wie der Bau im Wedding heißt, wird diese gerade praktisch ausprobiert. Seit ein paar Wochen sind die ersten Mieter in das fünfgeschossige Galerie-, Atelier- und Wohnhaus eingezogen. Nur das hohe Sockelgeschoss steht noch leer. "Wir lernen uns gerade kennen", sagt die Architekturfotografin Erica Overmeer, die ihr Studio hier hat. Mit ihr gibt es Designer, Agenturen, Modelabels, einen Künstler, ein Yogastudio und den Architekten Muck Petzet im LoBe. Petzet hat die Bauausführung für das Haus übernommen.

Brandlhuber baut für die kreative Elite Berlins. Das heißt nicht, dass seine Häuser teuer sein müssen, beim LoBe lagen die Baukosten bei 2000 Euro pro Quadratmeter. Der Architekt setzt auf einfache, unverarbeitete Materialien, rohen Beton, Spanholzplatten, auch durchschimmerndes Polycarbonat wie in der Brunnenstraße 9. Das Haus hat Brandlhuber, der in Köln arbeitete, bevor er 2006 an die Spree zog, in Berlin bekanntgemacht, weil es der Hauptstadt eine eigene Architektursprache schenkte. Rau, hart, fast grob, straßenköterartig im besten Sinne und offen für verschiedene Nutzungen. Perfekt für Berlin. Brandlhuber sagt: "Ich versuche, meine Architektur so zu bauen, dass die Räume immer noch offen bleiben."

"Ein gutes Haus verträgt vieles": Arno Brandlhuber. (Foto: Noshe/ Andreas Gehrke)

Im LoBe ist das sichtbar. Man betritt große Räume nahezu ohne Wände, außer einem Bad und einem Küchenblock aus Beton gibt es vor allem viel Freifläche. Tatsächlich macht nur das Licht Vorgaben. Durch die großen Tiefen im Erdgeschoss und in den unteren Etagen sind diese im Kern relativ dunkel, geeignet etwa, um dort am Computer zu arbeiten. Nach oben hin wird es schmaler und damit wohnlicher, weil dadurch mehr Licht in die Räume fällt. Die Gemeinschaftsdachterrasse befiehlt dann förmlich, Partys zu veranstalten, mit Blick auf einen alten Flakturm auf dem Humboldthain, der Ringbahn, die vorbeirattert. Und das Ende des Aufzugs, der in die Dachlandschaft ragt, hat exakt die Höhe einer Bar. Cheers!

Offiziell dürfen alle Mieter im LoBe nur arbeiten. Eine Vorschrift von 1958 verbietet es, auf dem ehemaligen Grundstück der Bahn zu wohnen. Doch die Metamorphose ist im Gebäude angelegt, das Haus tendiert zum Wohnen. Jetzt muss nur noch die Vorschrift aus einer Zeit fallen, wo es Sinn hatte, Wohnen und Arbeiten zu trennen, weil Letzteres oft mit Lärm und Schmutz zu tun hatte. Jahrzehnte her.

Außerdem ist ein gewisser Zwang zum sozialen Austausch angelegt. Um Platz zu sparen, gibt es kein Treppenhaus, sondern nur zwei Aufzüge und die außen liegenden Treppen. Vor allem aber gibt es auf den fünf Meter breiten Terrassen keine Trennung zwischen den Parteien. Nur die silbrig glänzende Vorhänge lassen sich bei Bedarf vor die bodentiefen Fenster ziehen. Damit müssen die Mieter erst einmal klarkommen, einige Pflanzentöpfe sind bereits in Grenzstellung gebracht.

"Ein gutes Haus verträgt vieles", sagt der Architekt entspannt an Overmeers rundem Holztisch. Den Satz hat er vom Kölner Nachkriegsarchitekten Hans Schilling. Berlin mag Brandlhuber geprägt haben, kulturell, gerade durch die Kunstszene, aber auch politisch, durch den verantwortungslosen Umgang mit öffentlichen Grundstücken, gegen den der Architekt immer wieder protestiert hat. Doch die Lässigkeit, die hat Arno Brandlhuber noch vom Rhein.

© SZ vom 24.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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