Was für ein Mannsbild. Morgens um sieben steht er auf dem Fechtboden. Ein paar Stunden später sieht man ihn durch die Villa Borghese galoppieren. Stattlicher Körperbau, markanter Unterkiefer, herrische Gesten, erotisch unersättlich. Er posiert gern mit freiem Oberkörper. Und sobald er die Stimme erhebt, kennt sein Charisma keine Grenzen. Benito Mussolini galt als notorischer Verführer. Er hat nicht nur seine Ehefrau Rachele, die jüdische Salonniere Margherita Sarfatti, seine minderjährige Sekretärin Bianca Ceccato und etliche weitere Gefährtinnen beglückt, sondern ein ganzes Land. Ihm erlagen schließlich sogar die Liberalen. Die Industriellen wickelte er um den Finger, die linke Opposition wurde mit Terror still gestellt. Nachdem seine Schergen im Juni 1924 den sozialistischen Abgeordneten Matteotti ermordet hatten und niemand es wagte, den Verfassungsartikel Nummer 47 anzuwenden, der eine Anklage des Ministerpräsidenten erlaubt hätte, war der Umbau Italiens zur Diktatur endgültig besiegelt. Mit seinem Aufstieg vom abgehalfterten Grundschullehrer zum Duce hat Mussolini nicht nur Historikern, sondern auch Romanciers viel zu bieten, scheint sich der Schriftsteller Antonio Scurati gedacht haben, der als Medientheoretiker über die Sprache der Gewalt geforscht hat.
Oder war die Zeit ganz einfach reif? Schließlich geistert Mussolini wie ein Untoter durch die italienische Geschichte. Längst zitieren Silvio Berlusconi, Donald Trump und Matteo Salvini unverblümt aus seinen Reden, Wladimir Putin und selbst Björn Höcke operieren mit Anklängen an diesen Prototypen.
"M. Der Sohn des Jahrhunderts" nennt Scurati, Jahrgang 1969, Dozent des Masterstudiengangs "Künste des Erzählens" an der International University of Language and Media in Mailand, erprobter Autor und für sein Interesse an brisanten Stoffen bekannt, seinen Roman. In seiner Kolosshaftigkeit steht Scuratis Buch dem Protagonisten in nichts nach. Die 830 Seiten umfassen die Jahre 1919 bis 1924, die Schlussvolte gehört Mussolinis martialischem Auftritt in der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925. Und dies ist erst der Anfang: Das Ganze ist als Trilogie angelegt, deren Zielpunkt das schauerliche Ende des Diktators als verstümmelter Leichnam auf dem Piazzale Loreto 1945 sein soll. Scurati geht chronologisch vor, gliedert den ersten Band in fünf Teile und nennt vor jedem Kapitel den Schauplatz, das Datum und den Hauptakteur der Episode. Die Kapitel sind eher kurz und als formaler Kontrapunkt zum panoramatischen Zugriff gedacht. Mussolini steht zwar im Zentrum, aber der Autor nimmt sein gesamtes Umfeld in den Blick: Weggenossen, Freundinnen, Gegner, Verwandte, insgesamt über siebzig Figuren. Der gefeierte Dichter Gabriele D'Annunzio kommt ebenso vor wie Mussolinis ältere Geliebte Margherita Sarfatti, die ihrem ungehobelten Gefährten Manieren beibrachte. Wie Belege sind den Kapiteln knappe Auszüge aus Dokumenten nachgestellt: Zitate aus Zeitungsartikeln, Parlamentsreden, Telegrammen, Geheimdienstberichten, Briefen.
In seiner Kolosshaftigkeit steht Scuratis Buch dem Protagonisten in nichts nach
Mussolini als Zentralgestirn, als Inbegriff des 20. Jahrhunderts, besitzt das nicht identifikatorisches Potenzial, droht womöglich eine Ikonisierung? Antonio Scurati bemüht sich um eine gegenläufige Bewegung und hat ein paar Sicherungen eingebaut: Er installiert einen auktorialen Erzähler und erteilt seinem Haupthelden nur auf den ersten vier Seiten das Wort. Zwar arbeitet er dann und wann mit inneren Monologen und lässt den Leser teilhaben an Mussolinis Wahrnehmungen, aber er verfällt gerade nicht auf den Fehler von Jonathan Littell, der sich in seinem Roman "Die Wohlgesinnten" (2008) über die Ich-Perspektive des erfundenen SS-Mannes Max Aue in ein monströses Theater der Grausamkeiten hineinsteigerte. Scurati reichert seine Kapitel mitunter fiktional an, nutzt aber eine Fülle von O-Tönen und Zeitzeugenberichten und hat sich historisch vielfach abgesichert. Die Entstehung der faschistischen Bewegung wird gerade nicht nur aus Mussolinis Warte geschildert, sondern auf eine ganze Serie von Figuren verteilt, genau wie der Umbau zur Partei, die Gewaltattacken der Schlägertrupps, der Marsch auf Rom, die Aktionen der Sozialisten und die Winkelzüge der ewig lavierenden Regierung.
Ein wichtiger Erzählstrang gehört Gabriele D'Annunzio, eine Art Popstar der Jahrhundertwende, der mit der Rede vom "verstümmelten Sieg" Italiens im Ersten Weltkrieg seine Getreuen mobilisierte, in einem Handstreich die Hafenstadt Fiume besetzte und Mussolini in seiner gesamten Selbstinszenierung zum Vorbild wurde. Ein Verdienst Scuratis ist, dass er den perfiden Mechanismus eines gesellschaftlichen Umbruchs vermittelt - Mussolini war zwar ein hochintelligenter Taktiker und begabter Journalist, der Stimmungen anfachte und zu kanalisieren wusste, aber es waren viele verschiedene Gruppen und Personen, die ihm zum Erfolg verhalfen. Die arbeitslosen, gewaltgewohnten Kriegsveteranen hatten ebenso ihren Anteil wie die verunsicherten bürgerlichen Schichten.
Durch die multiperspektivische Aufsplitterung vermittelt Scurati, in wie viele Richtungen sich die Geschehnisse hätten entwickeln können: Die sozialistische Partei fuhr 1919 einen haushohen Wahlsieg ein und stellte die meisten Parlamentarier, zerrieb sich dann aber in inneren Zwists. Die Stimmung auf den Straßen war aufgeladen. Es kam zu Streiks und Fabrikbesetzungen, sodass die Unternehmer eine bolschewistische Revolution fürchteten. Mussolini predigte die von D'Annunzio übernommene Ideologie der Tat und verachtete die Liberalen. Ausgerechnet sie verhalfen ihm schließlich zur Macht. Scurati illustriert den Stimmungsumschwung mit einer markanten Szene, wie nämlich Mussolini am 24. Oktober 1922 bei einem Auftritt im neapolitanischen Teatro San Carlo vor siebentausend Zuschauern sogar den Philosophen Benedetto Croce überzeugte. Der Anführer der Faschisten schien das kleinere Übel und ein Garant für die öffentliche Ordnung zu sein.
Carlo Emilio Gadda nannte den Faschismus die "Ära des Schwanzes"
Was diese Aspekte angeht, hat Antonio Scuratis Koloss also durchaus seine Berechtigung und gewinnt in Verena von Koskulls fabelhafter Übersetzung auch im deutschen Kontext sogar noch an Brisanz. Sein Unterfangen sei aus dem Geist des Antifaschismus entstanden, beteuerte der Schriftsteller, der bereits eine Fernsehserie plant. Er habe den Italienern einen Spiegel vorhalten wollen, was ihm angesichts der Popularität eines Matteo Salvini notwendig schien. Kalkül wird auch im Spiel gewesen sein, zumal bei einem Medienwissenschaftler wie Scurati. In Italien war "M. Der Sohn des Jahrhunderts", 2019 mit dem wichtigsten Literaturpreis Premio Strega ausgezeichnet, dann auch ein großer Erfolg und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Als didaktische Operation mag es seine Berechtigung haben, als Roman funktioniert das Unterfangen trotz der dokumentarischen Fleißarbeit nur bedingt. Denn obwohl die Geschehnisse derartig dramatisch sind, hapert es vor allem in der ersten Hälfte an einer narrativen Durchdringung - das Buch entfaltet schlichtweg keine Dynamik. Es ist zu kleinteilig. Gerade weil Scurati bewusst jedes Gemetzel detailgenau rapportiert, entwickeln die Schilderungen etwas Serielles. Die einzelnen Ereignisse verlieren an Schrecken und werten sich gegenseitig ab. Der Verfasser scheint um diese Gefahr zu wissen und schlägt deshalb vor allem zu Beginn der Kapitel einen behäbigen Tonfall an, der direkt aus dem 19. Jahrhundert herüber zu schallen scheint. Da hängt Nebel über der Poebene oder ein Telefonklingeln zerreißt das gleichmäßige Rattern der Druckwalzen oder der Likör ist dickflüssig und hat eine dunkle Farbe. Eine Beschränkung auf wenige Schlüsselfiguren, wie die schillernde Margherita Sarfatti, den furchtlosen Gegner Giacomo Matteotti oder den kaltblütigen Italo Balbo wäre in literarischer Hinsicht wirkungsvoller gewesen und hätte die Wahrnehmung Mussolinis aus der Halbdistanz erlaubt.
Stattdessen kriecht Scurati dem Diktator dann doch immer wieder in die Unterhose, berichtet von Spermatropfen, dichtet ihm Gelüste auf junge Chinesinnen an und beschreibt, wie sich in seinem Zimmer im Hotel Londra in Rom kurz vor seinem endgütltigen Triumph ein unerträglicher Schweißgeruch verbreitet. Der Diktator litt unter Käsefüßen. Aber mit dieser Käsefuß-Taktik kommt Antonio Scurati der Abgründigkeit seines Protagonisten eben doch nicht nahe. Der Schriftsteller Carlo Emilio Gadda, in frühen Jahren selbst ein Anhänger Mussolinis, hatte in seinem gegen Ende des Krieges geschriebenen grotesken Essay "Eros und Priapos", der 1967 stark bearbeitet erschien und erst 2016 in einer unzensierter Fassung neu herauskam, den Charakter des syphilitischen Zwangsvirilen und seine Wirkung auf die Italiener sehr viel besser erfasst und den Faschismus als eine "Ära des Schwanzes" apostrophiert. Aber Scurati will mehr, er will das gesamte Zeitalter erklären. Allein durch den enormen Umfang seines Werks und der noch folgenden Bände kokettiert Antonio Scurati dann doch mit dem Faszinosum Mussolinis. Das Monumentale birgt eben immer auch Gefahren.
Antonio Scurati : M. Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett Cotta, Stuttgart 2020, 830 Seiten, 32 Euro.