Anleitung zum Zuhausebleiben (1):Vamos a la Heia

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Vergesst den Traumstrand! Beim Urlaub in der eigenen Wohnung lernt man mehr über sich als in exotischen Paradiesen. Eine Anleitung zum Zuhausebleiben.

Franziska Seng

Ich bin Weltmeister. Nein, leider nicht in umjubelten Disziplinen wie Standardtanz, Frauenfußball oder Export, keine Spitzenleistungen, für die mir offizielle Vertreter meines Landes strotzend vor Dankbarkeit Lorbeerkronen aufs zarte Haupt pressen würden. Im Land der Reiseweltmeister bin ich Champion der Daheimbleiber. Warum, werde ich gefragt, entsagen Sie die den Freuden vierzehntägiger Bildungsbustouren, der Jagd auf pittoreskes Elend für das mit fernöstlichen Sprüchen garnierte Abenteuerpoesiefotoalbum? In einem Land, das von Travel-High-Potentials bevölkert ist, werden Daheimbleiber als bildungsresistent, weltfremd und faul gebrandmarkt.

Nein zum Sonnenuntergang und Ja zur Fototapete: Profi-Zuhausebleiber machen es wie Salma Hayek auf dem Plakat zum Film "After the Sunset". (Foto: ScrSh: sde)

Doch es ist durchaus möglich, mit Würde und Anstand eine längere Zeit die eigene Wohnung nur sporadisch zu verlassen und ernsthaften Gewinn, ja sogar Freude dabei zu empfinden. In diesem Jahr, in dem es mit den Exporten nicht so gut, mit der Schweinegrippe dafür umso besser läuft, könnte die Zahl der unfreiwilligen Heimurlauber sprunghaft ansteigen. Falls auch Sie, werter Leser, der Sie offensichtlich gerade nicht an einer romantischen Wasserfallwanderung oder einer faszinierenden Mekong-Kreuzfahrt teilnehmen, zu dieser Gruppe gehören, oder noch überlegen, ob sie auf Malta oder Malle aufprallen sollen - denken Sie immer daran: Auch das Daheimbleiben ist eine Chance.

Mein Reisepass kann bestätigen, dass ich schon fünf Kontinente beackert habe, selbstverständlich mit zerfleddernden Lonely Planets, damals, als es die bloß auf Englisch gab. In diesem Jahr habe ich bereits erfolgreich einen Interkontinentalflug absolviert. Besuchten mich plötzlich Bekannte für einen Überraschungsdiaabend, meine Festplatte wäre mit exotischen Fotos ausreichend bestückt. Das ist ein angenehmes Gefühl.

Andererseits trägt die Zeit, die man allein in seiner Wohnungen verbringt, ebenso zur Persönlichkeitsbildung bei wie indonesisches Bier oder australische Butterbrezen. Vorausgesetzt, man erliegt nicht der erstbesten Versuchung, zu Flasche, Fernbedienung oder Putzlappen zu greifen.

Natürlich ist aller Anfang hart. Nichts kann so unheimlich werden wie das vermeintlich Vertraute. Eine Reise ins Herz der Finsternis ist ein gemütliches Picknick im Vergleich zu ein paar Tagen in der eigenen Wohnung.

Die Vorstellung, morgens aufzuwachen, frei zu haben und zu wissen, dass Familie, Freunde die Stadt verlassen und man selbst dableiben wird, kann Unruheattacken auslösen. Das Zurückgeworfensein in die eigene Wohnung erscheint ebenso unangenehm wie ein ungeschminkter Blick in den Spiegel. Stellen Sie sich unbequemen Wahrheiten: Sie haben die Wohnzimmerwände mit effekthaschender Wischtechnik in ein klecksiges Fresko verwandelt, dessen Anblick schmerzt wie eine Ganzkörpergürtelrose. Sie haben die Yuccapflanze vernachlässigt. Nun kratzen vertrocknete Blätter bei Luftzügen vorwurfsvoll am Heizkörper. Sie haben Schuld an der inflationären Produktion von Phalaenopsis-Orchideen. Leugnen ist zwecklos.

Vielleicht werden Sie bemerken, dass tagsüber in Ihrer Wohnung Dinge vorgehen, von denen Sie nichts wussten, wahrscheinlich nichts wissen wollten. Vielleicht dachten Sie, allein in Ihrer Wohnung zu sein, und müssen nun das Gegenteil feststellen. Einer meiner Freunde öffnete eines Tages einen alten, unbenutzten Einbauschrank, aus dem ihn eine Taube ganz unverschämt anglotzte. Unter Schock verließ er die Wohnung, fuhr zur Uni, obwohl er dort, es war Samstag, nichts zu tun hatte. Als er abends nach Hause kam, war die Taube verschwunden. Ein Gefühl der Verunsicherung blieb.

Falsch wäre es, dem Fluchtreflex nachzugeben, zu kapitulieren. Besser ist es, seine vernachlässigten Sinne zu schärfen. "Häuser sprechen zu uns", schreibt der Schriftsteller Alain de Botton und fragt: "Warum hören wir ihnen nicht zu?" Zuhören ist eine Kunst, die liebevollste Geduld erfordert. Selbst kleine leise Kaffeelöffelchen wollen erhört sein, und man bekommt wirklich etwas geboten: Bekanntlich schlafen Lieder in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und jede noch so karg eingerichtete Wohnung ist ein phantastischer Schlafsaal schlummernder Möglichkeiten. Wer das begriffen hat, braucht keine Funktionskleidung, um schwindelnde Höhen und Tiefen zu erfahren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite von den Gefahren bei der Reise durch die Wohnung.

Dumme Touristenfragen II
:"Kann ich den Zug nach Hawaii nehmen?"

Da fällt einem nichts mehr ein: Kaum zu glauben, mit welchen Fragen manche Urlauber Reisebüro-Angestellte, Parkranger oder Kreuzfahrtpersonal angehen.

Begebe ich mich auf eine Reise um mein Zimmer, lasse ich die Hände von Fremdenführern, denn die empfehlen immer nur das Nächstliegende und zerkochte Hausmannskost. Der Gang wird weich, die Schritte geschmeidig, niemand kann meine Kreise stören. Rentner und Tauben sind alle ab nach Venedig.

Urlaub in München
:Isar statt Adria

Wer fährt denn heute noch an die Adria, nach Australien oder Andalusien? In Zeiten knapper Kassen machen wir Urlaub in der Stadt. Genauso schön. Unsere Tipps.

Beate Wild

Ich wähle für diesen Tag die Nordwestpassage, die am kürzesten, aber auch gefährlichsten ist. Ich durchquere die Weiten der Flokageti, der berüchtigten Langhaarsteppe, und fahre die Krallen ein, um mich nicht in verfilzten Teppichfransen zu verfangen. Trotzdem beginne ich bald zu keuchen. Tückische Staubwolken steigen um mich herum auf wie aus dem Nichts und vernebeln die Sinne. Je tiefer ich vordringe, umso dichter werden die Schwaden, aber ich drehe nicht um, es wäre sinnlos. Das Gestrüpp ist jetzt ganz hoch und dicht. In der Flokageti, so erzählt man, gäbe es nichts als die Gespenster der Wanderer, die sich für immer verirrt hätten. Ich arrangiere mich mit meiner Zukunft als Wüstengeist ...

Schokotafelberge ziehen vorbei

Als ich aufwache, empfinde ich Hochstimmung. Vor meinen Augen eröffnet sich die Provinz der größeren Hoffnung. Ich entdecke den Reisemantel, den mir ein französischer Austauschstudent dagelassen hat und streife ihn über. Meine Gedanken klettern über namenlose, wandernde Wäschedünen, baden in den dunklen Ringen jüngst entstandener Kaffeeatolle. Mit Sicherheitsabstand passiere ich Gefahrenherde: Fragmentonien, der Scheiterhaufen abgebrochener Geschichten; MediaMarkistan, die wankenden Türme der Home-Entertainment-Zone. An den Ufern des Blauzifik, des Tellerhortensienmeers, treffe ich die Herde meiner ausgewilderten Porzellanelefanten und möchte schreien vor Glück.

Jetzt hätte ich genug Kraft, um etwas zu arbeiten, doch mit einem entschiedenen Satz überspringe ich den Schreibtisch. Schließlich bin ich im Urlaub.

Eine scharfe Linkskurve, dann hechte ich auf die Küchenzeile, lecke Gletscherwasser aus dem tropfenden Hahn. Von hier aus erklimme ich das schroffe Stufengebirge des Aspvik-Wandregals. Meine schönen Nägel brechen ab. Lakritzlawinen, Problemgummibären, kleine Schokotafelberge ziehen an mir vorbei. Ich widerstehe der Versuchung, verbeiße mich in einen Müsliriegel, doch zu spät, ich werde zu schwer.

Sie haben es sich verdient

Es passiert beim Einstieg in die hängenden Aromagärten des Grundtal-Gewürzsystems. Schrauben lockern sich plötzlich aus der Wand, für einen kurzen Moment hänge ich in Marshmallow-Wolken, zwischen Karamellen und Rosmarin, dann stürze ich ab und reiße alles mit in die Tiefe.

Die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen kann, gerade für Unerfahrene, abrupt und unsanft ausfallen. Wer es bis hierhin geschafft hat, weiß, warum die meisten Unfälle nicht auf Autobahnen oder beim nervösen Trolley-Gerangel am Gepäckausgabeband passieren, sondern im Haushalt.

Auch sich selbst ist man näher gekommen. Ich weiß nun, dass ich allergisch auf alten Staub reagiere und nicht alle meine Wege nach MediaMarkistan führen müssen. Am eigenen Leib habe ich erfahren, wie sinnlos es ist, Problemgummibären und Schokotafelbergen zu entsagen; außerdem, dass ich das Anbringen von Gewürzregalen lieber französischen Austauschstudenten überlassen sollte.

Die Erkenntnisse sind manchmal schmerzhaft, doch mit zunehmender Ortskenntnis werden die Blessuren weniger. Bis dahin nehmen Sie die vertrockneten Yuccablätter, basteln einen Kranz und pressen ihn sich auf den Kopf. Sie haben es sich verdient.

Lesen Sie in der zweiten Folge am nächsten Dienstag: Warum der Mythos Balkonien überlebt und preiswerte Blässe einer protzigen Urlaubsbräune vorzuziehen ist.

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