Andrej Gelassimows Roman "Russenrap":Der große Betrug

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Während der Perestrojka-Jahre ist die Heimatstadt des Rappers Basta selbst im neuen Banditenrussland eine berüchtigte Banditenstadt: heruntergekommene Wohnhäuser im südrussischen Rostow am Don. (Foto: Valery Matytsin/Imago/Itar-Tass)

Dreimal am Tag verhungern: Andrej Gelassimow erzählt in seinem neuen Roman die krasse Geschichte des einst heroinsüchtigen russischen Rap-Superstars Basta.

Von Dmitrij Kapitelman

Die Diktatur der permanenten Selbstbewertung sei schlimmer als die ideologische Diktatur der Sowjetunion, hat der russische Schriftsteller Andrej Gelassimow einmal bilanziert, seinen jetzt auf Deutsch erschienenen Roman "Russenrap" erläuternd. Der gehe vor allem der Geburtsstunde des Kapitalismus im jüngeren Russland nach, und nicht so sehr dem Rap, bei allem Respekt. Das mutet etwas kurios an, wenn doch auf dem Cover der russische Rap-Superstar Wassili Wakulenko alias Basta bei einem Konzert im Olympiastadion Moskaus abgebildet ist. Und das Buch fast gänzlich auf dessen Biografie beruht.

Wie dieser wächst der Romanheld Tolja während der Neunziger in Rostow auf. Noch ganz weit entfernt vom Ruhm und Reichtum, tief im Süden des kürzlich zerfallenen Reiches und immer noch riesigen Landes. Es herrschen die brutalen Gesetze der Perestrojka-Jahre. Rostow am Don ist selbst im neuen Banditenrussland eine berüchtigte Banditenstadt. Die Mutter, hochgebildet, muss plötzlich Joghurt auf dem Markt verkaufen. Das Geld reicht gerade so dafür, dass Tolja und sein Bruder dreimal am Tag verhungern.

Träume vom Weihnachtsmann, der eine Pfanne mit Kartoffeln und Fleisch verschenkt. Vaterfiguren gleich zwei: Tahir, der Tschetschene, die ersten sieben Jahre. Bis der leibliche Vater aus dem Tschetschenienkrieg auftaucht, von Tolja lediglich "Genosse Hauptmann" genannt und wenig geliebt.

Bald verkauft Tolja Drogen, na ja, eigentlich von Wänden abgekratzten Kalk

Da verschwindet Vater eins. Oma Nikolajewna verhindert schon mal Vergewaltigungen in der Nachbarschaft, indem sie den Perversen Schneeschaufeln in die Fresse rammt. Sie ist es dann auch, die Tolja eisern zwingt, zur Musikschule zu gehen und anschließend in der Küche am Akkordeon zu üben. Stundenlang, als lägen die Straßen Rostows nicht vor dem Fenster. Doch auf diese Straßen findet Tolja auch so.

Bald verkauft er Drogen. Na ja, eigentlich von Wänden abgekratzten Kalk. Zusammen mit Maika, die er von anderen Dealern befreit hat. Eine Liebe wird es mit ihr geben und ein spätes Wiedersehen in Deutschland. Sie ist die Schwester des Junkies Djoma, der sie wiederum gegen zwanzig Päckchen Heroin eingetauscht hat. Nun hat Tolja eine Schusswunde und 50 000 Dollar Schulden bei den echten Dealern. An diesem Punkt hat man erst 60 Seiten gelesen, und die eigentlichen Ganovengeschichten folgen noch.

"Bei mir ist alles gut / hab bloß das Atmen verlernt / Ich bin jetzt im Spiel / hab bloß verlernt, wie man spielt." - Rapper Wasily Wakulenko alias Basta bei einem Konzert in Moskau anlässlich des Endes der Fußballweltmeisterschaft 2018. (Foto: Alexander Shcherbak/Imago/Itar-Tass)

Für die Musikschule bleibt jedenfalls keine Zeit, aber für Rap-Musik. Am liebsten selbst an Tracks feilend, in einer gammligen Garage, vor sich ein Wu-Tang-Clan-Poster und eine Heroinnadel im Arm. Drogensüchtig, chancenlos und himmelhoch beseelt ist Tolja. Wie ist die Beseeltheit zu bewerten? Immer vernarbter und unerschrocken vorlaut sieht man ihn in Rostow einer afroamerikanischen Kunstform aus Kapitalismus-Amerika nachgehen. Über "sein Spiel" (ein tatsächlicher Track von Basta, im bürgerlichen Leben Wassili Wakulenko) rappt er: "Bei mir ist alles gut / hab bloß das Atmen verlernt / Ich bin jetzt im Spiel / hab bloß verlernt, wie man spielt." Hoffnungslos begeistert.

Von diesen Toljas gab es viele im Russland jener Zeit, in so vielen postsowjetischen Ländern, junge Männer, unter denen eine Jahrhundertideologie wegbrach und die frei fliegen wollten. Sie mussten nun eigene Werte finden, eine eigene Sprache, wie es Gelassimow in Interviews bewundernd nennt, und wurden so zu einer Generation, die sich mit Rap selbst neu definierte.

Aber wie bewertet Tolja sich selbst in dieser Phase? Gar nicht, ist es doch gerade der große systematische Betrug, der Verfall ringsherum, der ihm die Legitimation zu fast allem verleiht: "Ich konnte ja sehen, wie sie alle verbogen und wie der Staat alle auf einmal fallen ließ. (...) Mir war schnell klar, dass du ganz auf dich allein gestellt bist. Auf dich und deine engsten Freunde (...) Aber der Staat kann dir bloß Schulterklappen anheften und dich in den Fleischwolf stopfen."

Der Blick auf sich selbst verändert sich, als Tolja irgendwann nur noch für Heroin existiert. Und die Sucht so unerträglich wird, dass er seine Mutter zwingt, ihm einen Schuss zu setzen. Er selbst zittert zu sehr. Sie will nicht, also hält er sich die Klinge an den Hals. Am selben gottverdammten Tag dann das erste triumphale Konzert - Rostow in Ekstase.

Es ist schier unmöglich, den Rostower Straßenslang der Neunziger in ein organisches Deutsch zu übertragen

Im zweiten Teil versteckt sich Tolja in einem Kloster bei Pskow. Im nördlichen Nichts, ganz weit weg, um clean zu bleiben. Er bindet sich einen Arm ab, um zu spüren, dass ein Teil von ihm für immer verloren ist. Hält sich eine fast totgeprügelte Schlange als Haustier, bringt einem Jungen bei, Akkordeon zu spielen. Ein selbstgebasteltes aus dem Holz einer Datscha-Toilette, die Tasten nur aufgemalt, reicht ja zum Lernen.

Nein, die Musik weicht nie ganz von Tolja, selbst im Kloster bleibt sie seine stille seelische Superkraft. Obwohl er dem Rap abgeschworen haben will. Hier wird die Sprache des Romans ruhiger. Und, um ehrlich zu sein, auch überzeugender. Vielleicht liegt es an der Übersetzung, genauer der schieren Unmöglichkeit, den Rostower Straßenslang aus den Neunzigern organisch ins Deutsche zu übertragen. Sätze wie "Er schiebt dermaßen den Affen, dass nur noch der Strick geht", klingen gezwungen und strengen an. Der Beat holpert.

Auch russische Kritiker waren der Ansicht, dass Rap einfach nicht Gelassimows Subkultur sei und die Sprache aufgesetzt wirke. Zuvor hat Gelassimow sehr erfolgreich Romane über den Tschetschenienkrieg und seinen Heimatort Jakutsk geschrieben. In Russland trägt das Buch den Titel "Das blanke Vergnügen", nach einem gleichnamigen Track von Basta. Der Blumenbar-Verlag entschied sich für "Russenrap". Was natürlich knallig ist und auch dem handfesten Charakter der Geschichte entspricht. Andererseits zeugt es nicht gerade von besonderer Sensibilität gegenüber deutschem Antislawismus, der weiß Gott noch nicht aufgearbeitet ist. Russe ist hier noch kein neutrales Wort und nein, so besetzt man es nicht neu. Aber das darf jeder selbst bewerten im Kapitalismus.

Andrej Gelassimow: Russenrap. Roman. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Blumenbar Verlag, Berlin 2021. 368 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Im zweiten Teil im Kloster scheint es jedenfalls so, als atme der Text erleichtert auf, endlich keine Pose mehr halten zu müssen. Die Beschreibungen von Toljas Kampf gegen die Sucht gehören zu den eindrücklichsten Passagen des Buches. Eine Kapelle soll er bauen, aber noch viel mehr eine Wiegestätte. Um abzuwägen, was ihm gegeben wurde fürs Leben. Zumindest rät ihm das ein Tschetschene, der nach dem Verlust seines Sohnes auch im Kloster wohnt. Selbst von der schönen, aus reichem Moskauer Hause stammenden Julia will Tolja nicht mit seiner Begabung behelligt werden. Sie hat sein letztes triumphal zugedröhntes Konzert in Rostow erlebt und ist nun in die russische Pampa gekommen, um Tolja wieder ans Mikrofon und ins Leben zu holen.

Mit Erfolg. Der Rapper folgt Julia nach Moskau, zurück in die Musik und vor allem in die Liebe. Auch wenn der Klassenunterschied zwischen beiden die Sache nicht einfach macht. Tolja bleibt clean. Und man sieht diesen jungen Mann, der in einer Dekade des Scheiterns längst gescheitert sein müsste, doch noch Glück haben. Wohlwissend, dass die Geschichte größtenteils wahr ist. Riesiger Erfolg, Ehe, zwei Kinder. Mit denen flaniert Tolja im letzten Kapitel schließlich durch Frankfurt, kurz vor einem riesigen Konzert, auf dem er vor 35 000 Menschen den nächsten Megahit rappt.

Das Leben ist gelungen, wie man im Russischen sagt. Und vielleicht ist genau das der optimistische Unterbau dieses rauen russischen Romans, in dem es nicht um Rap gehen soll. Mag ja sein, dass die ständige ökonomische Selbstbewertung totalitärer ist als die längst verlorene, obligatorische Gleichheit im Arbeiterstaat. Nur da ist einer in diesem neuen System, dessen höchster Wert und ganzes Glück etwas ganz Eigenes ist: die unerschütterliche Liebe zu seiner eigenen Rap-Musik. Und auch die unvergleichliche Befriedigung, wenn andere sie zu ihrer Musik machen. Etwas, das weder mit Geld noch mit Politik zu bändigen ist. Und trotzdem beides beeinflusst. Was "Russenrap" dann doch wieder zu einem Buch über Rap macht. Über die Kunstform, die sich jeder leisten kann. Auch, nein, gerade heroinsüchtige Russen aus Rostow am Don.

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