Amerikanische Träume:Grünliches Entsetzen

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Louise Erdrich: Die Wunder von Little No Horse. Roman. Aus dem Englischen von Gesine Schröder. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 509 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Die amerikanische Autorin Louise Erdrich konfrontiert in ihren Romanen ihre Landsleute mit den Leiden der Ureinwohner.

Von Felix Stephan

Man macht sicher nichts falsch, wenn man von den Romanen der amerikanischen Schriftstellerin Louise Erdrich behauptet, sie handelten von amerikanischen Ureinwohnern. Die Bücher sind überwiegend in einem fiktionalen Reservat in North Dakota namens Ozhibi'iganan angesiedelt. Dort leben unter erbarmungswürdigen Bedingungen die Ojibwe, und einige von ihnen tauchen in Erdrichs Romanen und Erzählungen seit bald fünf Jahrzehnten immer wieder auf. Andererseits ist das Besondere an Louise Erdrichs Prosa gerade, dass sie zwar von Native Americans erzählt, auf eine sehr cartesianische Weise aber den ganzen Menschen zum Thema haben.

In den USA ist Erdrich mit allen wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, doch obwohl fast alles von ihr übersetzt ist, ist Erdrich in Deutschland wenig bekannt. Was vielleicht damit zu tun hat, dass sie nicht in New York oder Los Angeles lebt, sondern in Minneapolis einen Buchladen betreibt, in den sich Journalisten selten verirren. Ganz in der Nähe wurde sie 1954 als Tochter eines deutschen Auswanderers und einer französisch-indianischen Mutter geboren, wuchs selbst in einem Reservat auf und studierte Literatur am renommierten Dartmouth College, im ersten Jahrgang, in dem es Frauen aufnahm.

Erdrich kennt also die Welt auf beiden Seiten der Reservatsgrenze aus eigener Anschauung, und dieses Doppelstudium macht auch ihre Romane aus. Die Naturreligion der Ojibwe kollidiert darin mit dem Christentum der europäischen Auswanderer, mit ihrem Individualismus, ihrer Psyche, ihrem Rationalismus. An der Grenze zum Reservat verlieren die Grundelemente der abendländischen Kultur ihre Selbstverständlichkeit, und von dieser Selbstauflösung handelt Erdrichs Prosa.

Mit fast zwanzigjähriger Verspätung erscheint jetzt Erdrichs Roman "Die Wunder von Little No Horse" auf Deutsch, in dem Erdrich diese Kollision am Beispiel des katholischen Pfarrers Damien Modeste erzählt. Im Jahr 1912 bezieht Modeste ein kleines Zimmer in einer abgeschiedenen Gemeinde im Ozhibi'iganan-Reservat und findet dort vor allem Lehm, Wälder und ein paar Dutzend Ojibwe vor, für deren Seelenheil er fortan zuständig ist. Es gibt keine Elektrizität, keine Straßen, keine gemauerten Gebäude, nur Zelte, Holzverschläge und Schnee. Damien nimmt Kontakt auf zu den Einheimischen, lernt ihre Sprache, leistet Beistand, baut im Laufe der Jahrzehnte eine passable Gemeinde auf und ist ansonsten damit beschäftigt, sein Geheimnis zu hüten. Father Damien ist in Wirklichkeit eine Frau, die deutsche Nonne Agnes DeWitt, die am Anfang des Romans keinen anderen Ausweg sieht, als sich die Soutane überzustreifen, und sich an diesem verlassenen Ende der Welt als Priester auszugeben.

Erdrich wird oft vorgeworfen, ihre Sprache sei zu gütig und versöhnlich

Falls einem diese Geschichte unglaubwürdig vorkommen sollte, empfiehlt Louise Erdrich in den Nachbemerkungen Diane Wood Middlebrooks Buch über den amerikanischen Jazz-Musiker Billy Tipton. Auch Tipton hatte sich sein Leben lang als Mann ausgegeben, war sogar mehrmals verheiratet, ohne dass sein Geheimnis gelüftet wurde.

Oft ist Erdrich vorgeworfen worden, dass ihre Sprache zu gütig und versöhnlich sei angesichts ihres Grundthemas, dem Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern. Und auch in diesem Roman erzählt sie die Geschichte der katholischen Missionierung nicht als aggressive Deformierung einer ursprünglichen Kultur. Der Katholizismus, der sich hier nach North Dakota verirrt, ist nicht dogmatisch, sondern selbst prekär. Der Reservatspriester ist eine tiefgläubige Frau, die in Sünde lebt. Und je länger Father Damien Modeste in dem Reservat arbeitet, desto stärker ergreifen die heidnischen Geister auch Besitz von ihm.

Einmal erscheint ihm ein sprechender Hund, mit dem er über seinen eigenen Tod verhandelt, ein andermal ist er plötzlich von Schlangen umringt, als er Schumanns "Kinderscenen" auf dem Klavier spielt: "Es waren mindestens hundert. Nein, mehr. Wieder regte sich eine, rasch wie eine Peitsche. Eine andere sickerte vorwärts, und Agnes legte die Hände wieder auf die Tasten. Eine dritte erhob sich zu einem Fragezeichen, auf das Agnes mit einer sanften Barkarole antwortete, eine passende Wahl für Schlangen, wie sie fand."

Jede neue Liebe, jede freundliche Lichtspiegelung findet bei Erdrich auf einem Massengrab statt, was diese Bücher allesamt eher voraussetzen als ausformulieren. Auch in "Little No Horse" kommt es vor, dass eine Frau nach dem Tod ihres Mannes "in den Wald" geht und Louise Erdrich das so schildert, als schließe sie sich dort Robin Hood an, und einem erst im Laufe der Erzählung aufgeht, dass diese Frau zu arm ist, um irgendwo anders zu leben als in einem selbst gebauten Holzverschlag. Dass eine Figur der letzte Vertreter ihres Klans ist, erfährt man bisweilen in einem Nebensatz. Und immer wieder tauchen Kinder in der Geschichte auf, von denen die Autorin taktvoll verschweigt, dass sie aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind, als sei dem Leser dieses Detail nicht zuzumuten.

Sie behandelt das Ausmaß dieser Auslöschung als fundamentales Menschheitsrätsel

Dass sie den Massenmord an den amerikanischen Ureinwohnern nicht wie einen völkerrechtlichen Anwendungsfall diskutiert, liegt daran, dass sie ihn nicht als sühnefähiges Verbrechen versteht, das sich erzählerisch konkretisieren ließe. Sie behandelt das Ausmaß dieser Auslöschung eher als fundamentales Menschheitsrätsel, um das sich all ihre Texte drehen. Wie kommt es, dass angesichts der Millionen Toten nicht alle längst verrückt geworden sind? Wie verhält sich diese Tatsache zum Katholizismus, zum Puritanismus, zum amerikanischen Selbstbild als Nation des Aufbruchs und der Chancengleichheit?

Bevor sie angefangen hat, über die Ojibwe zu schreiben, hat Erdrich ihre Sprache gelernt, und auch darin liegt eine Qualität ihrer Prosa: Sie verbaut in ihrem Romanen die anekdotischen Formen, die mündlich weitergegebenen Geschichten, die mythische Naturphilosophie der Ojibwe. Jahrhundertelang ist das die einzige Sprache gewesen, in der North Dakota formuliert wurde, und Erdrichs Romane bringen zum Klingen, was davon noch übrig ist. Die Natur wird in dieser Sprache selbst zum Akteur, die Adjektive verlieren ihre lexikalische Bedeutung: "der teerige Dunst des Todes", "die geräumige Süße ihrer frühen Begierde", "das grünliche Entsetzen".

Das Buch wird in zwei Zeitebenen erzählt. Einmal chronologisch und einmal im Rückblick aus dem Jahr 1996, als ein junger Geistlicher aus der nächsten Stadt die Reservatskirche aufsucht, um Berichten nachzugehen, eine Nonne habe dort Wunder vollbracht und müsse heilig gesprochen werden. Der junge Dogmatiker nimmt mit bürokratischem Ernst die Ermittlungen auf, unterhält sich einige Abende mit dem mittlerweile über hundertjährigen Father Damien Modeste und stürzt umgehend in eine Glaubenskrise. Als er Father Damien fragt, ob er das ernst meine, dass die Bekehrung zum Katholizismus nicht zwangsläufig Erlösung bedeute, wirkt Father Damien überrascht, dass man ihn das überhaupt fragte: "Oh nein, ich glaube, da haben wir uns geirrt".

© SZ vom 26.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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