Wer 2018 ein Buch mit dem Titel "Die Geflüchteten" aufschlägt, dürfte darin Geschichten über Menschen aus Syrien oder Afghanistan, Somalia oder dem Irak erwarten. Der Pulitzerpreisträger Viet Thanh Nguyen unterläuft solche Erwartungen: In den acht Kurzgeschichten, die er in seinem neuen Buch versammelt hat, geht es um einen anderen Krieg und um eine andere Flucht, nämlich die aus dem kriegsversehrten Vietnam der 70er-Jahre. Nicht nur, weil viele Bilder vom Mittelmeer heute wie Wiedergänger der historischen Aufnahmen von Boatpeople im Südchinesischen Meer wirken, ist es erwähnenswert, dass sich der Blessing Verlag und Nguyens Übersetzer Wolfgang Müller entschieden haben, den Originaltitel "The Refugees" nicht mit "Die Flüchtlinge" wiederzugeben.
Anatol Stefanowitsch, Professor für Linguistik an der Freien Universität Berlin, hat sich auf der Plattform Sprachlog schon vor einigen Jahren mit den negativen Konnotationen des Wortes Flüchtling auseinandergesetzt und verschiedene Alternativen durchgespielt: Schutzsuchender, Vertriebener oder eben Geflüchteter. All diese Worte bezeichnen Menschen, die vor Gewalt fliehen mussten, und es ist enorm interessant zu sehen, wie an den verschiedenen Bezeichnungen verschiedene Grade angenommener Legitimität der Flucht hängen - und für welche Gruppen sie jeweils reserviert sind. Einem Buch über die Opfer der US-Invasion in Vietnam den Titel "Die Geflüchteten" zu geben stellt so zugleich die Frage, aus welchen Gründen jemand, der in den vergangenen Jahren aus Syrien vertrieben wurde, in Deutschland zumeist nicht als Vertriebener bezeichnet wird.
Sich gegen das häufig passivisch wahrgenommene Wort "Flüchtlinge" und für "Geflüchtete" zu entscheiden ist aber auch eine Geste des Respekts gegenüber den Figuren des Buches, die Nguyen sicher gefallen würde, denn er erzählt ganz unterschiedliche Geschichten von der vietnamesischen Flucht nach Amerika und dem Leben danach, die darin übereinstimmen, dass sie ihre Protagonisten nicht als Opfer darstellen, sondern ihnen Komplexität und Handlungsfähigkeit zugestehen. In seinen theoretischen Texten, denkt Nguyen, der als Literaturwissenschaftler an der University of California lehrt, darüber nach, wie eine Erinnerungskultur zu bewerkstelligen wäre, die alle Akteure historischer Ereignisse als aktiv und verantwortlich darstellt. Als Schriftsteller versucht er das in möglichst populären Erzählungen zu verwirklichen, wie schon dem Vietnamkriegsthriller "Der Sympathisant" (2015).
In diesem neuen Erzählungsband bleiben Überraschungen oder stilistisch interessante Momente leider selten. Vieles wirkt konventionell, Dialoge hölzern oder klischiert (",Sag mir eins', sagte er. ,War ich gut?'"). Interessant wird es, wenn Nguyen mit den Erwartungen an die Figuren spielt und zum Beispiel von einem latent rassistischen amerikanischen Familienvater auf Vietnamurlaub erzählt, den man sich als Redneck aus den Südstaaten vorstellt. Erst nach mehreren Seiten verrät Nguyen, dass seine Figur Schwarz und mit einer Japanerin verheiratet ist.
In seinen besten Stellen ist "Die Geflüchteten" aber ein Buch über Fluchtgründe: Über Grausamkeit, versehrte Körper, den Tod und die Vergewaltigung von Kindern, Traumata, die nicht verschwinden. Es gelingt Nguyen, etwas von dieser Versehrung erahnbar zu machen. Dieses Buch erinnert insofern auch daran, dass der letzte Krieg in vielen Teilen der Welt nicht im Jahr 1945 beendet wurde, sondern erst 1975 (Vietnam), 1995 (Balkan), oder gar nicht (Syrien, Afghanistan, Irak, Jemen, Philippinen, Ukraine, Nigeria, Sudan).
Viele Fluchtgeschichten sind Geschichten von denen, die es nicht geschafft haben: Von den Toten, oder, wie in der ersten Erzählung im Band, von den Geistern. Es ist da ausgerechnet eine Ghostwriterin, die vom Geist ihres auf der Flucht ermordeten Bruders heimgesucht wird. "Unsere beste Behelfsmöglichkeit, um Brot mit den Toten zu brechen", schrieb W.H. Auden einmal, "ist die Kunst." Das versucht Nguyen und versucht auch die namenlose Erzählerin in einem symbolischen Vorgriff auf die folgenden Erzählungen, deren Protagonisten mit der Frage nach der Schuld der Überlebenden konfrontiert werden. Während der Geist des Bruders, der in einem überfüllten Boot auf dem Meer gestorben ist und deshalb den ganzen Weg in die USA schwimmen musste, den Teppich der Wohnung volltropft, empört sich die alternde Mutter, die eine Vorliebe für folkloristische Gespenstergeschichten hat, über ihre Tochter und deren "Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen eines Geistes."
Wie viele Figuren in Nguyens Erzählungen verletzen sich Mutter und Tochter in dieser Geschichte fast pausenlos gegenseitig, die erwachsene Erzählerin muss sich sexistische Sprüche und Maßregelungen anhören. Letztlich werden auch die lesbar als Teil einer größeren Verletzung ",Wenn der Krieg nicht gewesen wäre', sagte sie an jenem Abend so wehmütig, dass ich näher an sie heranrückte, ,dann wären wir heute wie die Koreaner. Saigon wäre Seoul, dein Vater wäre noch am Leben, du wärst verheiratet und hättest Kinder, ich wäre eine Hausfrau im Ruhestand und keine Nagelpflegerin.'" Diese Trauer um ein abgebrochenes Leben verbindet die Frauen mit allen anderen Charakteren in "Die Geflüchteten". Auch Jahrzehnte nach der Flucht will sie nicht weichen.