Amerikanische Literatur:Out of the Blues

Lesezeit: 4 min

Wie es dem Münchner dtv-Verlag gelang, einen Klassiker wie den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin wieder auf die Bestsellerliste zu bringen. Gerade ist eine weitere Neuübersetzung von ihm erschienen.

Von Felix Stephan

Vor Kurzem vermeldeten die Agenturen die schöne Nachricht, der Rapper Kollegah habe Thilo Sarrazin auf der Bestsellerliste von Platz eins verdrängt. Die Neuigkeit wurde mit einiger Erleichterung aufgenommen, woran sich vielleicht ablesen lässt, dass die Erwartungen an Bestsellerlisten nicht die allerhöchsten sind. Über die Bestsellerliste wird eigentlich vor allem im Modus des Gegenwartsverdrusses gesprochen: Als die Literarische Welt im Jahre 1927 die erste deutsche Bestsellerliste veröffentlichte (Platz 1: Hermann Hesses "Steppenwolf"), rief das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel die "Verflachung des deutschen Geisteslebens" aus.

Mitunter sind die deutschen Buchleser besser als ihr Ruf

Im vergangenen Jahr ist es dem Münchner Verlag dtv allerdings gelungen, gleich zwei Bücher wochenlang in den Top Ten der Bestsellerliste zu platzieren, die dem Gewohnheitsrecht zufolge dort eigentlich nichts zu suchen hatten: der 52 Jahre alte, bis dahin unveröffentlichte Essay "Die Freiheit, frei zu sein" von Hannah Arendt und der 65 Jahre alte Roman "Von dieser Welt" von James Baldwin, der vom Leben schwarzer Amerikaner in den Fünfzigerjahren handelt und dessen Autor vor drei Jahrzehnten gestorben war, für Interviews folglich nicht zur Verfügung stand.

In beiden Fällen hieß der Mann im Hintergrund Lars Claßen, Lektor bei dtv, und wenn man wissen will, wie man in Deutschland heute ganze Lkw-Ladungen kanonischer Literatur verkauft, fragt man ihn am besten gleich selbst. Die Geschichte des Arendt-Bandes ist die kürzere: Das Buch ist einfach die Übersetzung eines Essays, der 2017 in der amerikanischen Zeitschrift New England Review erschienen ist und dort mit dem Hinweis versehen war, er werde an dieser Stelle zum ersten Mal veröffentlicht. Claßen recherchierte, ob es sich vielleicht nur um eine Art Resteverwertung handelte, eine Auskoppelung aus einem bekannten Text oder ein Selbstplagiat. Er stellte fest, dass es sich tatsächlich um einen genuinen, neuen Arendt-Essay handelte, und kaufte ihn kurzerhand ein. Wochenlang stand das Buch auf der deutschen Bestsellerliste.

Bei James Baldwin lag die Sache komplizierter. Der Verlag hatte gerade eine Reihe aufgelegt, die Klassiker der postkolonialen Literatur in Deutschland zugänglich machen sollte, Bücher wie "Die Taugenichtse" von Samuel Selvon, einem karibischen Immigranten im London der Nachkriegszeit, der Zadie Smith gewissermaßen das Milieu vorformuliert hat.

Oder die Storys von William Saroyan, einem armenischen Immigranten in Kalifornien, der 1940 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Die Reihe war als Gegenkanon entworfen, in den James Baldwin glänzend gepasst hätte. Dtv aber ging davon aus, dass Baldwins Bücher in Deutschland nach wie vor lieferbar waren und die Rechte an seinem Werk also vergeben. Erst später stellte sich heraus, dass der Rowohlt-Verlag, der die Bücher in Deutschland jahrzehntelang verlegt hatte, Baldwin nicht mehr druckte und man sich um die Lizenzen neu bewerben konnte.

Große Rhetorik, glänzender Stil: James Baldwin in Frankreich. (Foto: 4/laif)

Claßen fand heraus, dass die Nachlassverwalterin von Baldwin eine freundliche ältere Dame in New York ist, die beim Verlag Simon&Schuster in der Buchhaltung arbeitet, flog in die USA und kaufte ihr die deutschen Lizenzen für James Baldwins Gesamtwerk ab, an die dreißig Bücher, Romane, zahllose Essays, Gedichte, Stücke. Nachdem dtv den ersten Band in neuer Übersetzung veröffentlicht hatte, lief Raoul Pecks Dokumentarfilm "I Am Not Your Negro" über James Baldwin an, und die Verkaufszahlen explodierten. Mitunter sind die deutschen Leser besser als ihr Ruf.

Über die Bestsellerliste wurde in den vergangenen Monaten eigentlich nur gesprochen, als es Rolf Peter Sieferles altersparanoische Suada "Finis Germania" in die oberen Ränge schaffte, und der Spiegel versuchte, die Platzierung zu verschweigen, um sich nicht an der Verbreitung des Buches zu beteiligen, und dadurch natürlich erst recht Aufmerksamkeit für das Buch herstellte.

Auch eine Entdeckung: Hannah Arendts Essay über die Freiheit von 1966

Dabei liegt in dem Umstand, dass sich jahrzehntealte Texte aus der Frühphase der Emanzipationsbewegungen auch 2018 in dieser Liste behaupten, die viel größere, weil unwahrscheinlichere Geschichte. Den Kommentar dazu liefert Hannah Arendt selbst. Der erste Satz ihres Essays von 1966 lautet: "Mein Thema heute, so fürchte ich, ist fast schon beschämend aktuell."

Die Geschichte betrifft auch die etwas mühselige, aber oft recht fruchtbare Dauerdebatte, was zum Kanon gehört und was nicht, und ob Baldwin wirklich dem Gegenkanon zuzurechnen ist. "Niemand bezweifelt, dass James Baldwin zum Kanon gehört", sagt Claßen, "Die Frage war lange nur: zu welchem? Dem postkolonialen Kanon? Dem schwarzen? Dem homosexuellen?" Die Publikumsabstimmung, als die sich die Bestsellerliste stets auch verstehen lässt, hat nun ergeben: Er gehört einfach zum Kanon. Wenn James Baldwin einst Martin Luther King und Malcom X auf dieselbe Weise einander nähergebracht hätte, wie seine Romane jetzt posthum Publikum und Kritik in Deutschland versöhnen, dann wären Ta-Nahesi Coates und Paul Beatty heute vielleicht schon keine schwarzen Schriftsteller mehr, sondern einfach Schriftsteller.

James Baldwin: Beale Street Blues. Roman. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber. dtv, München 2018. 224 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Fortan sollen Baldwins Romane in schneller Folge erscheinen, der zweite ist schon da. Er trägt den Titel "Beale Street Blues" und handelt von einem jungen, schwarzen Paar, das im New York der Siebzigerjahre einem rassistischen Polizeiapparat ausgeliefert ist. Und obwohl es sich dabei im besten Falle um den fünftwichtigsten Roman von James Baldwin handelt, ist es trotzdem einer der besten Romane, die zu diesem Thema je geschrieben wurden, ohne deshalb jedoch ein Themenroman zu sein.

Die große Stärke dieser Prosa liegt gerade darin, dass der geschmeidige humanistische Furor, der Baldwin als Redner und Bürgerrechtler berühmt gemacht hat, in seinen Romanen kaum vorkommt. In den literarischen Texten sind es eher die großen Dramen in den kleinen Küchen, die melancholische Melodie der Sprache, die spielerische Autorität des Erzählers, die einen Eindruck davon vermitteln, wie es geklungen haben könnte, wenn Shakespeare in den Sechzigerjahren als Schwarzer in New York gelebt hätte.

Noch in diesem Jahr soll die Verfilmung des Romans durch Barry Jenkins ins Kino kommen, der für "Moonlight" gerade den Regie-Oscar bekommen hat. Den Trailer dazu gibt es schon, er eröffnet mit dem Moment, in dem die 19-jährige Protagonistin gerade den Mut sammelt, ihrer Mutter zu gestehen, dass sie schwanger ist, während der werdende Vater unschuldig im Gefängnis sitzt.

Die Mutter weiß natürlich von der ersten Silbe an, was die Tochter ihr sagen möchte, aber sie lässt es sie trotzdem aussprechen, und man begreift staunend die Angst der Tochter und die Rührung der Mutter und die unmenschlichen Umstände, in denen sich diese Szene abspielt, als begreife man zum ersten Mal. Im Roman geschieht das knapp und unpompös, dennoch ist in diesem Moment die gesamte Geschichte der amerikanischen Schwarzen anwesend, und es sind gerade diese Szenen, die James Baldwin hinlegt, wie es eben nur die Großen können.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, James Baldwin habe an die 30 Romane geschrieben. Richtig ist, dass er an die 30 Bücher veröffentlicht hat, aber nur sieben Romane.

© SZ vom 20.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: