Amerikanische Literatur:Die Unruhe des Reverend

Lesezeit: 3 min

Marilynne Robinson gibt den Frommen der Provinz eine Stimme. Jetzt ist ihr Roman "Gilead", ein Lieblingsbuch Barack Obamas, auf Deutsch erschienen.

Von Lothar Müller

Erst seit es Metropolen gibt, ist in der Literatur der kleine Ort in der Provinz zu einer Welt für sich aufgeblüht. Er ist ein Hauptschauplatz in den Romanen und Erzählungen der Moderne. Er mag im Abseits liegen, aus der Welt ist er nie. Mit den großen Zeitkonflikten ist er vielfältig verknüpft. Oft trägt er die Tarnkappe eines fiktiven Namens, fast immer ist er in eine wiedererkennbare Landschaft eingebettet. Der kleine Ort ist eines der literarischen Motive, in denen moderne Gesellschaften sich selber erkunden.

Die amerikanische Autorin Marilynne Robinson hat im Jahrzehnt von 2004 bis 2014 eine ganze Romantrilogie in Gilead, Iowa, angesiedelt, einem kleinen Ort in der Prärie, wo Staub und Dürre die Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen. Im vergangenen Jahr ist als Auftakt der deutschen Ausgabe der Abschlussband erschienen, "Lila". Er erzählt, wie das Waisenkind Lila, das in der Zeit der großen Dürre und der Wirtschaftskrisen der späten Zwanzigerjahre unter Fahrenden und Entwurzelten aufwächst, nach Gilead kommt und dort als junge Frau in der Nachkriegszeit den alten Reverend John Ames heiratet und mit ihm einen Sohn bekommt.

"Einen Hund, der Zeitung liest, das gibt es nur in Rom", hat Steve McCurry unlängst bei seinem Besuch in München gesagt. (Foto: Steve McCurry/Magnum Photos/Agentur Focus)

Der Schauplatz hält diese Trilogie zusammen. Statt chronologisch voranzuschreiten, bettet sie ihre Figuren in immer neuen Erzählbewegungen in den kleinen Ort ein, durch den die Zeiten hindurchgehen, mal rückt dabei die eine, mal die andere Familie in den Vordergrund. Schon im ersten Band sind der alte Reverend und Lila ein Paar, schon hier sind die Beziehungen zur Familie des presbyterianischen Predigers Boughton eng.

Es gibt schon Kino, Radio und Fernsehen, aber noch immer ist die Bibel das wichtigste Medium

Dieser erste Band, "Gilead", der den Schauplatz im Titel trägt, erscheint nun bei uns in einer Zeit, in der die Frage, die darin untergründig rumort, an die Oberfläche getreten ist: Wie vereinigt sind die Vereinigten Staaten von Amerika? Wie stehen die weißen Protestanten zu den Afroamerikanern? Wie offen sind die Grenzen einer Community, einer Gemeinde?

Marilynne Robinson, die 1943 in Idaho geboren wurde und seit Jahrzehnten in Iowa lebt, gehört der "United Church of Christ" an, wie einer ihrer größten Bewunderer, Barack Obama, der während seiner Amtszeit immer wieder ihre Bücher, zumal "Gilead", empfahl und sie 2015 für die New York Review of Books interviewte. Iowa war in der Kampagne, die ihn 2008 ins Amt führte, ein Schlüsselstaat. Er habe dort gewonnen, sagte Obama kürzlich, weil er 87 Tage in Iowa verbracht habe, "going to every small town".

Marilynne Robinson: Gilead. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 320 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: verlag)

Es gibt kein Gilead in Iowa. Aber es gibt Gilead in der Bibel, als steiniges, karges Berggebiet östlich des Jordan. Viele kleine Orte im realen Iowa tragen biblische Namen, Tabor zum Beispiel, oft sind sie von einer der vielen protestantischen Gemeinden gegründet worden. In "Gilead" spielt diese Überlagerung von Konfession und Kommune eine große Rolle, der kleine Ort ist um seine Kirchengebäude herum gebaut. Marilynne Robinson hat eine so einfache wie ergiebige Form gefunden, um Gilead in die amerikanische Landschaft und zugleich in die Geschichte der amerikanischen Nation einzuzeichnen. Diese Form ist der Briefroman.

Er hat hier nur eine Stimme, die des 76-jährigen Reverend John Ames. Er weiß, dass er wegen einer Herzschwäche nicht mehr lang zu leben hat und schreibt einen langen, monologischen Brief an seinen Sohn, im Jahr 1956. Da gibt es schon Kino, Radio und Fernsehen, aber für Ames bleibt das lebensbegleitende Medium die Bibel, als heilige Schrift wie als unerschöpfliche Quelle von Bildern und Geschichten.

Der lange Abschiedsbrief gibt den Blick frei auf die Innenwelt eines frommen Mannes, mit dessen Predigten sich eine ganze Bibliothek füllen ließe, der von den Schriften Calvins durchdrungen ist und den Atheismus Ludwig Feuerbachs als ebenbürtigen Gegner schätzt. "Der Vater meiner Mutter war Geistlicher und auch der Vater meines Vaters und dessen Vater davor, und was davor war, weiß niemand, aber ich kann es mir denken." Nur auf den ersten Blick aber kommt die Stimme des Reverend John Ames aus einer in sich ruhenden Welt. Es steckt ein Familienroman in diesem Briefmonolog, in dem die Söhne gegen die Väter rebellieren; in der Genealogie der Frommen stiften die Großkonflikte der Nation eine nie zu bändigende Unruhe. Sie prägt auch die Gegenwart des Schreibens, herrscht auch dort, wo der Reverend sich scheinbar in Bibelkommentaren und theologischen Spekulationen verliert.

John Ames, Jahrgang 1880, gerät rasch in die Innenwelten des Bürgerkriegs, wenn er von seinem Vater und Großvater erzählt, und über die Grenzen Iowas hinaus. Die Kämpfe um Kansas, ob es "als freier Staat oder als Sklavenstaat" der Union beitritt, finden in Gilead ihr Echo. Der Großvater, ein Bewunderer John Browns, der die Sklaverei mit Waffengewalt beseitigen wollte, verliert im Krieg ein Auge und ist ein Prediger mit Pistole, sein Sohn ein umso kompromissloserer Pazifist.

In der ihr eigenen ruhigen, anschaulichen Diktion, die Uda Strätling bis auf Kleinigkeiten im Deutschen erhält, spinnt Marilynne Robinson den Briefschreiber und seine Welt in die kleinen und großen Geschichten der Unruhe ein. Der alte John Ames neigt dazu, den Brand in der "Negerkirche" seiner Jugend ("das, was heute die Milchbar ist") zu bagatellisieren, aber es war Brandstiftung, die "Negergemeinde" hat Gilead danach verlassen. Und nun, 1956, wird die Entdeckung, dass der Sohn des alten Boughton mit einer "Farbigen" ein Kind gezeugt hat, zum Schock. Wie Marilynne Robinson das aus dem Inneren des todgeweihten Reverend heraus erzählt, ist große Literatur.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: