Amerikanische Literatur:Das Surren der Kühlaggregate

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Sieht so die Literatur des Klimawandels aus? Lauren Groffs kraftvoller Erzählungsband "Florida" erinnert an die Kurzgeschichten der Kanadierin Alice Munro und gewinnt noch aus dem kleinsten Detail Aussagekraft.

Von Meike Fessmann

Wild und unheimlich, im Alltäglichen verortet wie in einem Sumpfgebiet, pirschen sich diese Erzählungen heran. Ein leiser Sound drohenden Unheils liegt über allem. Oft sind es die Geräusche von Tieren, ihr Atem, ihr Schleichen, ihr Schlängeln und Peitschen, das Aufknacken von Nüssen oder von irgendwas (einem Schädel beispielsweise), ihr Herzschlag, das knappe Zischen einer zuschlagenden Katzenpfote. Die kleine Narbe, die ihr Kater hinterlassen hat, erinnert eine Frau an alles, was sie verlor. Als ihr Freund sie verließ, ging es bergab, er hat das Brunchen am Morgen mitgenommen, den geregelten Tagesablauf, die Freunde, den Besuch im Ferienhaus seiner Eltern in Pennsylvania. Ihr Job an der Uni wurde nicht verlängert, sie ließ sich fallen, gab einfach auf, packte ihre Sachen in den Kombi, und aus der "Beinahe-Professorin" wurde eine Obdachlose, die ihren Wagen einfach stehen ließ, nachdem er aufgebrochen wurde - was übrig geblieben war, hing "wie Gedärme" heraus.

Die elf Geschichten aus "Florida" sind von großer Körperlichkeit, wobei kaum ein Unterschied zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Dingen besteht. Die Natur ist beides, bedrohlich und bedroht, fast in jeder Geschichte gibt es Hitze, Regen, Stürme oder Hurrikans, in jeder Ecke lauern Schlangen, Termiten, Ungeziefer. Alligatoren sind keine Seltenheit, in Dolinen sammelt sich das Wasser. Sie glaube daran, dass Landschaften tatsächlich das Gehirn verändern, sagte die 1978 geborene Schriftstellerin nach einer Lesung bei "Politics and Prose" im Juni 2018 (zu sehen auf Youtube). Dort beschrieb sie auch, wie sie sich aufs Schreiben einstimmt: mit dem Lesen von Gedichten, häufig Emily Dickinson.

Lauren Groff, deren dritten Roman "Fates and Furies" ("Licht und Zorn") Präsident Obama 2015 zu seinem Lieblingsbuch erkor, nachdem schon ihr erster Roman, "The Monsters of Templeton", 2008 auf die Bestseller-Liste der New York Times gekommen war, wuchs im Bundesstaat New York auf. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Florida. Dort gleiche der Sommer "dem langsamen Ertrinken bei glühender Hitze", schreibt sie in "Yport", der nach einem Dorf in der Normandie benannten längsten und letzten Erzählung des fulminanten Bandes. Eine Schriftstellerin verbringt den Sommer mit ihren kleinen Söhnen in Frankreich, um der Hitze und ihren Panikattacken zu entfliehen und endlich ihr Buch über Guy de Maupassant voranzubringen, an dem sie seit Jahren arbeitet. Doch nicht nur ihre Söhne beginnen "Guy" zu hassen, auch ihr eigener Widerwille wächst.

Warum soll sie ihre Zeit an einen derartig unsympathischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts verschwenden, nur weil sie ein paar seiner Werke gelungen findet? Steht er nicht für alles, was sie verabscheut, für Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Misogynie und Amoralität? Sie hatte gehofft, sich in Frankreich besser zu fühlen, klarer, eleganter, auch die Sprache, die uns umgibt, verändert schließlich, wer wir sind. Doch die Kur schlägt nicht an. "Ach, Mommy hat doch vor allem Angst", weiß der ältere der beiden Söhne schon mit sieben Jahren und tätschelt das Bein seiner Mutter, während er sie auf einer schmalen Brücke über eine tiefe Kluft führt.

"Yport" ist nicht nur eine Erzählung über die USA und das hochnäsige Europa, über den Einfluss von Landschaft und Sprache auf die Psyche, über Güte und Moral, sondern auch über den Klimawandel. Paris war der weiblichen Hauptfigur, die nur "die Mutter" genannt wird, immer als möglicher Fluchtort vor den "drohenden Klimakriegen der Zukunft" erschienen. Nun ist es dort beinahe so heiß wie in Florida. Das beschert ihr nicht nur die "entmutigende Selbsterkenntnis", für immer und ewig nach Florida zu gehören. Es führt auch zu der Überlegung, dass "auf einem heißeren Planeten alle Orte gleich schlecht" sind. Die Äquilibristik des Schreckens beherrscht Lauren Groff meisterlich: eine Angst hält die andere in Schach. Der Klimawandel ist gewissermaßen das Nervensystem, das die einzelnen Erzählungen und den ganzen Band innerviert.

Lauren Groff ist eine präzise und strukturierte Erzählerin, die ihren Geschichten mit natürlichen Dialogen und elementaren Bildern Kraft verleiht: Ob es die Eiche ist, die vor einem jüngst verlassenen Nonnenkloster nachts angestrahlt wird, einem "Koloss" ähnlich, der an eine am Küchentisch sitzende Frau erinnert, ob es die Robinson-Crusoe-Geschichte um zwei Mädchen ist oder die im Florida rund um den Zweiten Weltkrieg spielende Erzählung, in der es ein Junge mit seinem amphibien- und reptilienvernarrten rassistischen Vater, einem Herpetologie-Professor, in einem dunklen Cracker-Haus am Sumpf aushalten muss, nachdem die Mutter eines Tages geflohen ist. Der Kriegseinsatz des Vaters in Europa brachte eine Atempause, danach wurde alles nur noch schlimmer. Innen- und Außenwelt verschlingt Groff zu einem Möbius-Band der Bedrohung, wenn sie über den Jungen schreibt, er könne Mädchen ohne ein Wort verführen, weil sie "die Gefahr spürten, die zusammengerollt in ihm lauerte".

Die Schlange des Unglücks beißt sich wie der mythische Ouroboros in den eigenen Schwanz, wenn es in "Geister und Leerstände", der ersten Erzählung, heißt: "Tagsüber, wenn meine Söhne in der Schule sind, verschlinge ich wie eine Besessene alles über die Katastrophen der Welt, die Gletscher, die sterben wie lebende Wesen, den Großen Pazifikmüllfleck und das hundertfache, nicht protokollierte Artensterben - Jahrtausende, einfach so ausgelöscht, als wären sie nichts wert. Von unbändiger Trauer erfüllt, lese ich, als könnte Lesen dieser Trauer irgendwie den Rachen stopfen, statt ihre Gier zu befeuern, denn genau das passiert."

Die Übersetzung von Stefanie Jacobs ist meistens gelungen. Manchmal erfindet sie wenig plausibel ein Detail hinzu - dass sich Kreuzfahrtpassagiere "dreimal täglich" am Büffet bedienen beispielsweise -, während sie im selben Zusammenhang Details weglässt, die für die Stärke eines Bildes notwendig wären, wenn sie übersetzt: "meine Aufsässigkeit glich zu dieser Zeit einem zähen Nebel, der sich nie auflöste, weil nirgends Sonne war". Im amerikanischen Original aber heißt es: "my rebelliousness at the time was like a sticky fog rolling through my body and never burning off, there was no sun inside". Dabei geht nicht nur die Körperlichkeit des Bildes mit der für Lauren Groff so typischen Inversion von Innen- und Außenwelt verloren, sondern auch der rollende Klang und Rhythmus des Satzes.

Die Geschichte, aus der dieses Zitat stammt, heißt "Die Mitternachtszone". Es ist jene Zone tief im Meer, in die kein Licht vordringt. Wie alle Erzählungen wirkt sie realistisch und verhandelt die großen Themen der Zeit mit einem Spin, der zwischen Panik und Lakonie, zwischen Energie und fast lasziver Trägheit rotiert, um schließlich in einer kafkaesken Verwandlungsszenerie zu enden, die so minutiös gebaut ist, dass man sie fast überlesen kann. Lauren Groff braucht keine Dystopie, um das Unheimliche der Gegenwart zu erfassen. Ihr genügt eine Erzählerin, die mit ihren beiden Söhnen zwei Tage allein in einer Jagdhütte fernab der Zivilisation bleibt, während ihr Mann wegen eines beruflichen Notfalls nach Hause zurückkehren muss. Sie will sich und ihm beweisen, dass sie, die zwar mit ihren Kindern tobt und ihnen vorliest, aber alles vermeidet, was nach weiblicher - oder irgendeiner - Pflichterfüllung aussieht, das kann. Es geht auf ebenso tragikomische wie furchterregende Weise schief. Als er zurückkehrt, liegt sie mit einer notdürftig von ihren Kindern versorgten Kopfverletzung in der Hütte, und zum ersten Mal zeigt sich etwas bei dem "sanften Hünen", was sonst ihr Part ist: "Was ich in seinem Gesicht sah, war das Schlimmste überhaupt, es war Angst, und sie war riesengroß, sie war elementar wie der Wind und die kühle Sonne, die ich bald auf meinem seidigen Pelz spüren würde."

Wie David Vann mit seinen in Alaska angesiedelten Familientragödien, wie T. C. Boyle und Joan Didion mit ihren in Kalifornien spielenden Büchern, macht auch Lauren Groff in "Florida" aus einem Land die mentale Topografie ihrer Obsessionen. Die Fremdheitserfahrung, aus dem Norden der USA in den Süden gezogen zu sein, mag dazu beigetragen haben, ihr Sensorium für gesellschaftliche Spannungen zu sensibilisieren: für soziale Abstürze, für Rassismus, für das "neue Gift" eines Hasses, das nur bei Männern wirkt, aber auch für die Schwierigkeiten von Frauen, in einer "Gesellschaft der Singularitäten", wie der Soziologe Andreas Reckwitz die hochindividualisierte Gesellschaft der Spätmoderne nennt, mit der Mutterrolle klarzukommen. Was die israelische Soziologin Orna Donath als "Regretting Motherhood" erkundete oder Rachel Cusk mit ihrem autobiografischen Essay "A Life's Work" ("Lebenswerk"), gespenstert durch diese Geschichten als der Schrecken mehrfacher Überforderung: Kinder in einer Welt aufzuziehen, von der die Wissenschaft versichert, sie steuere auf ihren Untergang zu.

Lauren Groff ist eine kraftvolle Erzählerin, die dem Unheimlichen der Gegenwart auf eine Weise beikommt, die an Alice Munro erinnert und noch aus dem kleinsten Detail Aussagekraft gewinnt. Aus dem ständigen Surren der Klimaanlagen beispielsweise, die dem Schutz derjenigen dienen, die drinnen sind, und die Atmosphäre weiter aufheizen.

© SZ vom 03.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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