Alice Zeniters Roman "Kurz vor dem Vergessen":Das Wunderkind

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Hierhin hat sich der Eremit zurückgezogen, der Zeniters Roman zusammenhält: eine durchnässte Insel auf den Inneren Hebriden. (Foto: Roland Marske/imago/imagebroker)

Alice Zeniters Roman "Kurz vor dem Vergessen" ist eine wundervolle Rhapsodie über das Vergehen der Liebe.

Von Joseph Hanimann

Mit ihrem Roman "Die Kunst zu verlieren" hat Alice Zeniter vor zwei Jahren auch in Deutschland nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht. Es handelte sich um die brillant über drei Generationen hinweg erzählte und nicht zuletzt ergreifende Geschichte einer "Harki"-Familie, also jener Algerier, die während des Befreiungskriegs auf französischer Seite standen und dann nach der Unabhängigkeit 1962 in Frankreich trotzdem unerwünscht waren. Zeniter beherrscht aber auch andere Themenregister. Ihr jüngster Roman etwa, der auf Deutsch noch nicht vorliegt, handelt von politisch motiviertem Hackertum, dem Hacktivism.

Jetzt ist erst auf Deutsch erst einmal "Kurz vor dem Vergessen" erschienen, ein Roman, der im Original 2015 erschienen ist, da war die Autorin noch keine dreißig Jahre alt. Trotzdem war es bereits ihr vierter Roman und er verrät schon viel von der spitzbübischen Virtuosität, die aus dieser Vielfachbegabten als Erzählerin, Drehbuch- und Theaterautorin, Regisseurin und Performerin eine der originellsten Erscheinungen der französischen Gegenwartsliteratur macht.

Akademische Milieustudien, eine erlahmende Liebesgeschichte, vernebelte Hebriden-Exotik stehen in diesem Roman mühelos nebeneinander. Die Doktorandin Émilie Perret verbringt einen mehrmonatigen Studienaufenthalt auf der einsamen Hebrideninsel Mirhalay, auf der der berühmte Krimiautor Galwin Donnell, Gegenstand ihrer Forschung, zwanzig Jahre lang gelebt hat, bevor er spurlos verschwand.

Der Knoten, der diese Geschichte zusammenhält, ist ein schottischer Eremit und Misanthrop

Trubel kommt in diese Schafweiden-, Regen- und Philologen-Verlassenheit durch die Ankunft einer Schar von Professoren, Studenten und sonstigen Teilnehmern eines Donnell-Kolloquiums an diesem Ort. Dass just in dem Moment auch Franck, Émilies Lebenspartner, aus Paris anreist, passt schlecht und bringt die Paarbeziehung in Schieflage. Franck hat nur die Nähe zu Émilie im Kopf, diese hat als Organisatorin des Treffens den Kopf aber anderswo.

Es entsteht eine gender-gespiegelte Liebeskiste, von der Autorin jedoch feinsinnig als Gegenklischee aufgebaut. Émilie weint heimlich unter der Dusche beim Gedanken, wie schwer Beruf und Liebe vereinbar sind. Franck hilft sich in Gesellschaft des kauzigen Inselwächters Jock mit dessen ekligem Whisky über seine Selbstzweifel hinweg.

Im Wechsel der Erzählperspektiven dringen wir als Leser in die Herzen der einen oder anderen ein, bewegen uns in der schrulligen Gelehrtengemeinschaft, durchstreifen die regengetränkte schottische Inselwelt, tauchen ab auf den Meeresgrund, wo die von den Fischen bis aufs Weiß der Knochen gesäuberten Reste von Galwin Donnell im Rhythmus der Algen hin und her wiegen. Denn dieser "Misanthrop, Eremit & Schriftsteller", wie es auf der Gedenktafel an der Rückwand der Inselkapelle heißt, ist der Knoten des ganzen Geschehens.

Ihre eigene literaturwissenschaftliche Dissertation hat die Autorin nie vollendet

Um die von Zeniter frei erfundene Figur winden sich immer neue Schlaufen literarischer Spielerei. Donnells Werke werden von den Kolloquiumsrednern andächtig zerpflückt, seine Interviewauszüge sorgfältig bibliografiert, die Hypothesen über den Grund seines Verschwindens - Mord? Selbstmord? Identitätswechsel? - ausführlich rapportiert. Das Ergebnis ist eine Art literarisch verfremdeter Krimi. Die von Donnell geschaffene Figur des Privatdetektivs Adrian Dickson Carr, ein weder intelligenter, noch attraktiver und überdies unter Sexsucht leidender Kerl, kommt uns bald so vertraut vor wie seine berühmten Kollegen Sherlock Holmes, Dexter oder Yosuke Kobayashi.

Wie oft bei Alice Zeniter ist manches aus ihrer eigenen Biografie ins Buch selbstironisch eingeflossen, angefangen mit einer nie abgeschlossenen Doktorarbeit über die weiblichen Figuren bei Martin Crimp. In ihrem Kolloquiumsvortrag spricht Émilie über die Frauen bei Galwin Donnell und kommt zum Schluss, sie alle seien nichts als aus Versatzstücken zusammengesetzte Puppen, bis auf eine, die in jeder Hinsicht ganz aus der Reihe tanzt.

Gerade diese von den Gender Studies übersehene Figur, schließt die Vortragende, sei die einzige echte Frau in Donnells Romanen und damit der Schlüssel für dessen Blick auf das andere Geschlecht. Und der sei geprägt von einem "vollkommenen und beängstigenden Unverständnis".

Alice Zeniter: Kurz vor dem Vergessen. Roman. Aus dem Französischen von Yvonne Eglinger. Berlin Verlag, Berlin/München, 2021. 320 Seiten. 22 Euro. (Foto: N/A)

Wie die permanente Brandung des Meeres unten am Inselstrand lässt die Autorin Zeniter das Gefühlsleben ihrer Figuren an dieser harten Philologinneneinsicht über die Liebe auflaufen. Während Émilies Vortrag sitzt Franck nicht im Saal, sondern mit Jock beim Whiskytrinken irgendwo in einem entlegenen Winkel von Mirhalay. Eine von Humor und Witz durchblitzte sanfte Traurigkeit schwebt über dem Buch.

Einzelne Stellen sind erzählerisch zu breit ausgewalzt. Nebensächliches behindert den Fortgang des Geschehens und die meistens sehr kurzen Kapitel kommen mit allzu gewichtigen Titeln daher. Auch möchte man nicht unbedingt alle paar Seiten am neuen Kapitelanfang ein (fiktives) Motto aus Galwin Donnells Gesamtwerk lesen.

Und doch wiegt Alice Zeniters kluge und packende Darstellung einer langsam ins Reich des Vergessens abdriftenden Liebe diese Ungeschicklichkeiten reichlich auf. Und die Übersetzerin hat zwischen dem Wuchern der literarischen Anspielungen jenen Sprachton getroffen, der auch im Deutschen Parodie und Ernst im Rhythmus von Strömung und Gegenströmung wunderbar hin und herwiegen lässt.

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