Alfred Kerr:Rezensenten-Scheine

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Er war einer der größten Berliner Kritiker. Ein scharfer Beobachter, der auch korrupte Kollegen attackierte. Zum 150. Geburtstag ein Band von Alfred Kerr.

Von Jens Bisky

Am 25. Dezember 1897 konnten die Leser der Breslauer Zeitung über den Unterschied zwischen vornehmem Verhalten und der energischen Hemdsärmeligkeit nachdenken, mit der die Preußen immer wieder verblüfften. Der junge Alfred Kerr berichtete in seinem "Berliner Brief", die Fürstin Hohenlohe, Gattin des Reichskanzlers, sei gestorben. Um sie zu charakterisieren, setzte er der "grenzenlos vornehmen Familie", süddeutsch, katholisch, "von einem fremdartigen Hauch umwittert", die Formlosigkeit des preußischen Dienstadels entgegen. Er wäre nicht Kerr geworden, hätte er dazu nicht eine kleine Szene geschildert: Schriftsteller zu Besuch bei den Bismarcks, sie lauschten den Worten des Fürsten, standen in Friedrichsruh herum und einige bemerkten vor Ergriffenheit nicht, dass sie - ganz ungehörig - auf dem Rasen standen. Die Bismarcken sah es vom Fenster aus, nahm übel und gestikulierte "zornig mit energischen Gebärden, und ihre Arme schienen zu sagen: ,Runtergehen! Sofort runtergehen!'" Kerr war sich sicher: "So hätte die verstorbene Hohenlohin nie gestikuliert", sie hätte bestenfalls später einen Kammerdiener lautlos zum Gärtner geschickt. Mit der gleichen Präzision und dramatischen Prägnanz hat Kerr Sozialisten und Frauenrechtlerinnen, Parvenüs und Projektemacher, Reiche und Aufstiegswillige, Künstler und Kritiker der kaiserzeitlichen Reichshauptstadt geschildert. 1997 hat Günther Rühle die ein Jahrhundert lang vergessenen Kulturbriefe für die Breslauer Zeitung veröffentlicht. Alfred Kerr wurde damit, wie zuvor schon Fontane, ein Gegenwartsautor der jungen Berliner Republik, die mit den Zerrbildern des Kalten Krieges wenig anfangen konnte und gierig war nach Berichten aus einem Berlin des Wachstums, des Muts, des Aufbruchs. Kerr hatte sie geschrieben, respektlos und leidenschaftlich zugleich, unvoreingenommen, skeptisch und voller Sehnsucht nach Begeisterung.

Am 25. Dezember 1897 feierte der Breslauer Alfred Kerr seinen dreißigsten Geburtstag. Er war dabei, der wichtigste Kritiker der Berliner Moderne zu werden, eine Instanz, an der keiner vorbeikam - bis er im Februar 1933 vor den Nazis fliehen musste. Seine Werke wurden verbrannt, sein Name stand auf der ersten Ausbürgerungsliste der neuen Machthaber. Vom Elend des Exils erzählt seine Tochter Judith Kerr im Roman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Er starb auf einer Deutschlandreise 1948 in Hamburg.

Kerr bezichtigte den Kritiker Tappert der Bestechlichkeit - und überführte ihn

Zum 150. Geburtstag Alfred Kerrs ist im Aufbau Verlag eine Auswahl aus den "Berliner Briefen" erschienen ( Was ist der Mensch in Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs, hrsg. Deborah Vietor-Engländer, 375 S ., 26 Euro , E-Book 19,99 Euro). Wer darin blättert und auf den 25. Dezember 1897 schaut, wird nichts über die Fürstin Hohenlohe und die unvornehm gestikulierende Bismarcken finden. Deborah Vietor-Engländer, die im vorigen Jahr eine große, beglückend materialreiche Kerr-Biografie veröffentlich hat (SZ vom 18.10.2016), bietet statt des bekannten Briefs einen seit 120 Jahren erstmals wieder gedruckten. Kerr hatte ihn für die Königsberger Allgemeine Zeitung verfasst. Er handelt vom Rezensionsgeschäft, genauer: von der Affäre Tappert. Zu Beginn des Jahres hatte Alfred Kerr Berliner Musikkritiker beschuldigt, bestechlich zu sein. Einige protestierten, nicht jedoch Wilhelm Tappert, Jahrgang 1830. Kerr forcierte: "Ich klage hiermit Wilhelm Tappert, wohnhaft zu Berlin, Bellealliancestraße 68, der unlauteren Zugänglichkeit für Geldgaben und Missbrauch seines Amtes an." Der Beschuldigte klagte wegen Verleumdung, Kerr reichte Widerklage ein.

In der Königsberger Allgemeinen Zeitung vom 25.12.1897 erzählte Kerr nun vom zweiten Prozess gegen Tappert, wobei er versprach, die "Person des Angreifenden, des Herrn Alfred Kerr" aus dem Spiel zu lassen: "Denn ich kenne diesen Herrn zu genau, um ganz objektiv sein zu können." Obwohl er in eigener Sache schrieb, ist sein Brief ein Muster fairer und dennoch nicht fader Berichterstattung. Zeuge um Zeuge hatte vor Gericht geschildert, wie Tapperts Urteil mit "Pinke-Pinke" gesteuert wurde. Eine Amerikanerin hatte sogar in Chicago davon gehört, dass man ihm Geld schicken müsse und "vor einem Konzert ihrer Tochter an Herrn Tappert, ohne die Ehre seiner persönlichen Bekanntschaft zu genießen, 50 M in einem Rohrpostbrief geschickt".

Tappert schien gerichtet, "hilflos und zerschmettert". Er zog die Beleidigungsklage zurück, übernahm alle Kosten, reichte ein Entlassungsgesuch bei seinem Blatte ein - das allerdings zurückgewiesen wurde. Sein Prozessgegner Kerr warb als Autor der "Berliner Briefe", halb ernst, halb ironisch um Mitleid für den Überführten. Dieser sei ein alter Mann und "anscheinend ein genauer Kenner musikgeschichtlicher Dinge". Von der moralischen Seite absehend, widmete sich Kerr der theatralischen Seite der Prozessverhandlung, den Zeugen, die vor der unangenehmen Aufgabe standen, "Bestechungen, die sie selbst verübt, einzugestehen".

Kerr war später ein Polemiker ersten Ranges, hier kombinierte er Neugier auf Menschen und Schonungslosigkeit in der Sache. Ergebnis am 25. Dezember 1897: "Die ,Nehmer' unter den Musikrenzensenten - es ist nur diese winzige Minderheit, die Mehrheit ist anständig - werden etwas zurückhaltender in ihrem Handwerk sein. Wenigstens für die nächste Zeit."

Wir kennen die "Berliner Briefe" aus der Breslauer Zeitung bis zum Jahr 1900, aber für die Königsberger Allgemeine Zeitung hat Alfred Kerr bis zum Jahr 1922 Briefe aus Berlin geschrieben. Deborah Vietor-Engländer bereitet sie derzeit für die Veröffentlichung vor. Das wird ein Fest für Leser.

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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