"Berlin wird Berlin": Alfred Kerrs Plauderbriefe:Annalen der Elektrifizierung

Lesezeit: 6 min

Bei Alfred Kerr wurde alles zu einem Berliner Ereignis: der Potsdamer Platz um 1910. (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

In seinen "Plauderbriefen" berichtete Alfred Kerr jahrzehntelang aus dem Wilhelminischen Berlin. Sie zeigen die Vorgeschichte der Berliner Republik, den Aufstieg der Stadt zur kosmopolitischen Weltmetropole.

Von Lothar Müller

Das Gravitätische lag Alfred Kerr nicht sonderlich. Schon gar nicht der Verlautbarungston in eigener Sache, in dem er seinen "Plauderbrief" vom 10. Juni 1909 eröffnete: "Diese Briefe sind nicht dazu da, Erlebnisse des Verfassers mitzuteilen -, sie sollen nicht ein Spiegel seiner Person, sondern des allgemeinen Lebens in Berlin sein."

Seit zwölf Jahren schrieb er da schon Woche für Woche seine Berichte aus der Reichshauptstadt für die Königsberger Allgemeine Zeitung. Sein Publikum in Ostpreußen wie in Berlin, wo die Zeitung ebenfalls gelesen wurde, wird die windschiefe Entgegensetzung so wenig ernst genommen haben wie er selbst. Es schätzte ja gerade die Nonchalance, mit der Kerr das allgemeine Berliner Leben in den Spiegel seiner Person fallen ließ.

Es hatte am Sonntag, dem 22. Februar 1903, unter dem Titel "Der Kodak" Folgendes gelesen: "Es widerspräche allem Herkommen dieser Plauderbriefe, wenn ich den Lesern verheimlichte, daß ich seit mehreren Tagen einen Kodak habe. Ich trenne mich nur beim Schlafengehen von ihm; sonst sind wir nicht auseinanderzubringen. Ein Kodak nimmt den ganzen Menschen in Anspruch. Früher hab' ich Personen und Gegenstände daraufhin betrachtet, ob sie klug oder dumm, gut oder schlecht, schädlich oder nützlich waren; jetzt fragt man bei allem bloß, ob es zu photographieren ist."

Im leichten Ton seiner Briefe klingen die Pariser Berichte Heines und Börnes an

Im Herbst 1887, mit knapp zwanzig Jahren, war Kerr, gebürtiger Breslauer, nach Berlin gekommen, hatte studiert, eine Dissertation über die deutsche Romantik geschrieben, erste Schritte als Literatur- und Theaterkritiker unternommen, sich auch auf belletristischem Gebiet versucht und ab 1. Januar 1895 die Rubrik "Berliner Brief" in der Breslauer Zeitung übernommen. Den leichten Ton wie die zeitdiagnostischen Ambitionen hatte er aus den Pariser Berichten Heines und Börnes im Ohr. In den Briefen, die er aus der im rapiden Wachstum begriffenen Metropole an seine Herkunftswelt adressierte, entstand die plaudernde Ich-Figur, die seit Sommer 1897 auch für Leser im fernen, ihm unbekannten Ostpreußen schrieb.

Als Günther Rühle, Nachfahre Kerrs in der Bundesrepublik und Herausgeber seiner gesammelten Werke, 1997 die für die Breslauer Zeitung geschriebenen Briefe aus der Reichshauptstadt entdeckte und herausbrachte, waren sie in der noch jungen "Berliner Republik" eine Sensation. Das lag nicht nur an der dichten Beschreibung des Wilhelminischen Berlin mit seiner Elektrifizierung und technischen Modernisierung, seinen politischen Skandalen und sozialen Ungerechtigkeiten, es lag auch am Spiegeleffekt. Eine Stadt voller Start-up-Unternehmen und Zukunftshoffnungen suchte im Jahrzehnt nach dem Mauerfall nach ihrer Vorgeschichte.

Die "Berliner Briefe" für die Breslauer Zeitung endeten im Jahr 1900, aus unbekannten Gründen. Die "Plauderbriefe" Richtung Königsberg setzte Alfred Kerr bis in den Sommer 1922 fort, insgesamt über ein Vierteljahrhundert hinweg. Deborah Vietor-Engländer lässt nun ihrer überaus reichhaltigen Kerr-Biografie von 2016 in vier Bänden die "Plauderbriefe" folgen, die sie in jahrelangen Recherchen in diversen Bibliotheken und Archiven ausfindig gemacht hat. Lückenlos ist die sorgfältig kommentierte Edition angesichts der Quellenlage nicht, aber ein großartiger Kaleidoskop-Roman, in dem sich das Wilhelminische Berlin von der Jahrhundertwende über die Vorkriegs- und Kriegsjahre hinweg im Plauder-Ich Alfred Kerrs spiegelt, ehe es in das Berlin der Revolutionszeit und der ersten Jahre der Weimarer Republik übergeht.

Einen "Chronisten" nennt er sich gelegentlich, aber davon muss man die Aura des Nüchternen, aufs Faktische Fokussierten abziehen, sein Plauder-Ich ist mit der Sentenz, der Sottise und der Pointe im Bunde. Kurz nach Beginn seiner Berichterstattertätigkeit sterben im Jahr 1898 Bismarck, den er als junger Mann besucht, und Theodor Fontane, der früh auf ihn aufmerksam geworden ist und seine Karriere befördert hat. Beiden widmet er bewegte und bewegende Nachrufe.

Aus den Romanen Fontanes mag er gelernt haben, dass dem Plaudern im Feuilleton wie dem Feuer jeder Stoff recht ist, den es ergreift und verbrennt. Alles, was auch anderswo in der Zeitung stehen könnte, vom Leitartikel bis zur kleinen Meldung im Vermischten, von der Auslandskorrespondenz bis zur Lokalnachricht, kommt in seinen Plauderbriefen vor. Eine chronique scandaleuse lässt sich aus ihnen herausschreiben, eine Berliner Kriminalgeschichte von Mord, Betrug und dreister Geschäftemacherei, eine Geschichte des Verkehrswesens mit den Hauptfiguren Pferd, Automobil und U-Bahn, und natürlich ein Panorama der Volksvergnügungen, vom Lunapark über die Gartenlokale bis zum aufkommenden "Kientopp", das er leicht widerstrebend als Teil künftiger Kultur neben das geliebte Theater stellen muss.

Kaum hat er sein Amt angetreten, fertigt Kerr sehr energisch den haarsträubenden Irrtum ab, "Wettergespräche für geistlos zu halten". Und zumal Unwettergespräche. Der Berliner Luft, dem Berliner Regen, der Hitze und der Kälte, der Schwüle und den Gewittern wird er über ein Vierteljahrhundert hinweg die Treue halten, sehr zum Gewinn des Publikums.

Das Plauder-Ich dieser Briefe transformiert alles und jeden zu einem Berliner Ereignis

Berliner Ereignisse sind in seinen Plauderbriefen nicht nur Ereignisse, die in Berlin stattfinden, es kommt all das hinzu, worüber die Berliner reden, und das ist viel, denn die Berliner sind Zeitungsleser. Also werden das Erdbeben in Messina 1908, der Tod Tolstois 1910, der Kriegseintritt Italiens 1915, die Russische Revolution 1917 Berliner Ereignisse. Oder der Mord an einem Spielhöllenbesitzer in New York, der das Plauder-Ich zu kulturhistorischen Exkursen über Analogien und Differenzen von Moral und Gewalt im Italien der Renaissance und im allermodernsten Amerika herausfordert.

Auch nimmt das Plauder-Ich sein Publikum mit in seine Sommerfrischen an die Nordsee, auf seine Ausflüge ins Berliner Umland, sei es der Spreewald oder die Uckermark, auf seine Reisen nach Italien. All das sind nicht Marotten dieses Ich, es sind Gewohnheiten des Berliner Bürgertums. Manchmal sind es auch Moden. Etwa solche, die aus den Verlockungen der Medien hervorgehen, die im Wilhelminischen Berlin bereits alltagsprägende Kraft besaßen, wie die Sehnsucht, mittels kleiner oder größerer Reklametricks berühmt zu werden.

Es ist Zufall, dass diese Plauderbriefe in so großer zeitlicher Nähe zur Eröffnung des Humboldt-Forums erscheinen und inmitten von Debatten über das Erbe des europäischen Kolonialismus. Aber dieser Zufall lässt die Seiten hervortreten, in denen Kerr im Sommer 1897 unter dem Titel "Transvaal aus Pappe" die große Ausstellung - und ihr Publikum - beschreibt, bei der am Kurfürstendamm eine ganze Stadt der Südafrikanischen Republik zu Zeiten ihres Präsidenten Paul Kruger, genannt "Ohm Krüger", aufgebaut wurde.

An den kolonialen Menschenausstellungen nimmt Kerr wenig Anstoß

Menschen und Tiere waren hier ausgestellt, auch Buren, musikalische Darbietungen und Tänze gehörten zum Programm, eine Hauptattraktion war der "Kaffernzwerg". "Dann sieht man Farbige, die zu Zugthieren gemacht sind: afrikanische Menschenbrüder, die vor eine zweirädrige Droschke gespannt sind und sie im Trab durch die Ausstellung ziehen. Für wenige Nickel kann man eine Fahrt machen. Anfangs sträubte sich das Humanitätsgefühl der Berliner hiergegen. Aber sie gewöhnten sich daran; und bald läßt sich jetzt ein pomadirter junger Dämon aus der Kolonialwarenbranche, bald ein Fräulein mit geschminkten Backen triumphierend durch das Gefilde fahren. Zusammenstöße mit dem Publikum kommen vor. Auch Auseinandersetzungen über die Hautfarbe. Ein Ausstellungsgast, der offenbar Bier getrunken hat, stellt sich einer Kulidroschke in den Weg und beginnt etwas von ,dämlichen Schwarzen' zu reden. Zum allgemeinen höchsten Erstaunen hält ihm der Eingespannte, der wenigstens das zweite der Worte verstanden hat, in leidlichem Holländisch eine laute Gardinenpredigt: die Farbe dieses Herrn sei weiß, seine eigene Farbe sei schwarz, jeder habe eben seine Farbe! Stürmisches Bravo im Publikum, das Wort für Wort versteht; der Angreifer will noch reden, doch unter der sanften Mahnung 'Justav, halt'n Rand!' bekommt er einige liebreiche Klapse auf den Kopf, und ruhig zieht der edle Kuli davon." Drei Jahre später, im Juni 1900, präsentierten die Brüder Carl und Fritz Marquardt in einem Teil des Zoologischen Gartens unter dem Titel "Unsere neuen Landsleute" Bewohner der im Vorjahr dem Deutschen Reich zugeschlagenen Samoa-Inseln. Kerr nimmt an solchen Vorführungen wenig Anstoß.

Im April 1910 liefert der Halleysche Komet Stoff zu einer Plauderei über den Weltuntergang, zwei Jahre später gastieren die Futuristen in Berlin. Kerr ist von ihnen wenig beeindruckt, entwirft aber hinreißende "futuristische" Bilder in Prosa, eines vom Eiffelturm, eines von der Stadt Budapest. Wenige Jahre später endet die Vorkriegszeit. Weltkrieg, Revolution, Spekulation, Inflation und das Attentat auf Walther Rathenau stellen die Form des Plauderbriefs auf eine harte Probe.

Das Plauder-Ich besteht sie auch deshalb, weil sein Autor nie in Fundamentalopposition zu der Gesellschaft steht, in der er schreibt, im August 1914 an der nationalen Begeisterung Anteil hat, im Krieg stets "Deutschland" meint, wenn er "wir" sagt, schon mal Invektiven gegen kleinere Mächte wie Portugal einstreut, zum Zeichnen von Kriegsanleihen auffordert und 1919 vehement gegen den Versailler Vertrag protestiert.

Aus seinem Judentum macht er wenig Aufhebens. Seit dem Dreyfus-Prozess um 1900 hat er ein waches Organ für den Antisemitismus, auch in Deutschland, doch nie einen Zweifel, Teil des "wir" zu sein. Dieses Zugehörigkeitsbewusstsein gehört zum Fundament dieser Plauderbriefe. Wie die vor gut zwei Jahrzehnten publizierten "Berliner Briefe", aber mit noch größerem Nachdruck, verändern sie das Bild des Autors Alfred Kerr. Mehr als gleichgewichtig steht nun dem Theaterkritiker, Rezensenten und Reiseschriftsteller der Prosaplauderer gegenüber, der als jahrzehntelanger Berichterstatter aus Berlin zum Universalfeuilletonisten wird.

Alfred Kerr: Berlin wird Berlin. Briefe aus der Reichshauptstadt 1897-1922. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. Vier Bände. Zus. 2984 Seiten, 148 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: