Alben der Woche:Dunkle Nächte, strahlend helle Zukunft

Lesezeit: 3 min

(Foto: John Locher/AP)

Alex Cameron vertont noch jede Krise mit guter Laune und zumindet Dolly Parton gibt nicht auf. Außerdem: Neues von Jenny Hval, Ho99o9 und Stahlberger.

Von SZ-Popkritikern

Ho99o9 - "SKIN"

Ho99o9: "Skin" (Foto: ATO Records)

Sinnloses Ausrasten vertont zurzeit niemand schöner als das US-amerikanische Trio Ho99o9 (ausgesprochen Horror). Dessen Gründungsmitglieder Yeti Bones und theOGM sind mit Gangsta Rap aufgewachsen, haben sich bald auf Hardcore-Punkkonzerten gerauft und schließlich eindeutig zu viele Horrorfilme geguckt. Was sie daraus seit 2012 an Musik machen, klingt wahlweise wie ein musikalisches Aggressionsproblem oder eine genreübergreifende Lärmbelästigung. Für ihr zweites Album "SKIN" (ATO Records) sprang Travis Barker von der Skatepunkband Blink 182 als Drummer ein und die Wut, welche die drei da in den letzten zwei Jahren im Studio aufgestaut haben, ist beachtlich. So sind jede Menge nihilistischer Zorn und gar ein Gastauftritt von Berufsschreihals und Slipknot-Sängers Corey Taylor auf "SKIN" zu hören. Live gelten Ho99o9 als vielgerühmte Zumutung, auf Platte sind sie ein Versprechen: Wenn die Zombie-Apokalypse doch noch kommt, hat die Rockmusik in ihnen ein Nachleben. Timo Posselt

Alex Cameron - "Oxy Music"

Alex Cameron: "Oxy Music" (Foto: Secretly Canadian)

Aggressionsprobleme hat Alex Cameron keine. Den australischen Singersongwriter im Nick-Cave-Gedächtnis-Look interessiert auf seinem neuen Album "Oxy Music" (Secretly Canadian) stattdessen die Verbindung von Tiefsinn und Pharmazie. Genauer, wie die "Suche nach dem Grund des Lebens" in der nächsten Apotheke endet, erklärt Cameron zum neuen Album. Gerade die Weltlage, so der Künstler, führe dazu, dass immer mehr Menschen zu Opioiden griffen. Das zeigten auch neuste Statistiken. Soso. Cameron fiel bis anhin weniger mit sozialwissenschaftlichen Hobbystudien als mit seiner lässigen Verkörperung brüchiger Männlichkeit auf. Auf "Oxy Music" untermalt er die ureigene Bestandsaufnahme der Opioidkrise in den USA dann mit so wolkigen 80er-Synthesizern, dass man weniger an verschreibungspflichtige Schmerzmittel, als an Fahrten im offenen Cabriolet von Bryan Ferry in Richtung Sonnenuntergang denkt. Trotz Parklücke zwischen Form und Inhalt lässt sich hier prächtig mitsummen. Timo Posselt

Dolly Parton - "Run Rose Run"

Dolly Parton: (Foto: Butterfly Records)

Auch Dolly Parton erfindet die Welt jetzt nicht direkt neu, aber spendet ihr wenigstens ein bisschen Kraft: "Is it easy? / No it ain't / Can I fix? / No, I can't / But I sure ain't gonna take it lyin' down." Alles schwer. Nichts davon zu lösen. Aber wer würde deswegen gleich aufgeben und sich langmachen. "Woman Up (And Take It Like a Man)" heißt der Song, der Teil des sehr vergnügt gegen die Umstände anmarschierenden Albums "Run Rose Run" (Butterfly Records) ist. Ein, da muss man nicht groß drum herumreden, sehr archetypisches, sehr amerikanisches Country-Werk. Bisschen Bluegrass-Einschlag, hie und da ein paar sehr schwungvoll gefidelte Geigen und wirklich ganz schnittige Chöre. Dazu ein, zwei richtig unerträgliche Balladen, aber eben auch der Song, der von hier an für die kommenden Wochen gelten soll - mindestens: "Dark Night, Bright Future". Und so klingt das: "Forgiveness is a magic wand, makes things disappear / Kindness wipes away regret, hope can conquer fear." Sind das Kalendersprüche? Himmel, ja. Es ist Country. Es ist der Schlager der USA. Aber man nimmt in diesen Tagen doch, was man kriegt. Oder? Also! Jakob Biazza

Jenny Hval - "Classic Objects"

Henny Hval: "Classical Objects" (Foto: 4AD)

Wie man aparte Themen stimmig in Popsongs zusammenführt, weiß die Norwegerin Jenny Hval. Zum Beispiel von "Blood Bitch" (2016): Menstruationsblut, Vampirinnen, Kapitalismus. Das klang dann auch genauso cineastisch. Thematisch niederschwelliger ist da das neue Album "Classic Objects" (4AD). Darauf reist sie an Orte ihrer Jugend und an solche, die sie während der Pandemie vermisst hat. Nachdem sie sich mit ihrem Lebenspartner Håvard Volden unter dem Namen Menneskekollektivet dem Noise hingab, streben die neuen Stücke wieder deutlicher in Richtung Popsong. Aber allein schon das Regenplätschern zu Beginn von "Cemetery of Splendour" deutet an, wie weit die Reise diesmal führen könnte: Die Synthies leiden Fernweh, die Percussion scheppert handgemacht und Hvals Helium-Stimme verliert sich in der Weite. Ein Album wie ein Tritt hinaus ins Offene. Timo Posselt

Stahlberger - "Lüt uf Fotene"

Stahlberger: "Lüt uf Fotene" (Foto: N/A)

Die Schweiz punktet nicht nur mit DJ Bobo, Geldbergen von Autokraten und unterschiedliche Aggregationszuständen von Käse, sondern auch mit einer heillos unterschätzten Musikszene. Nachdem sich deutsche Ohren schon auf den wienernden Liedermacher Voodoo Jürgens einließen, muss sich der große Kanton nun auf eine Band in Schwyzerdütsch gefasst machen: Stahlberger gelten in der Schweiz als die musikalischen Seismografen der alltäglichen Enge. So ist auch das neue Album "Lüt uf Fotene" (Irascible) von Figuren zwischen Brandstifter und Biedermann besiedelt. Die verlorenen Illusionen der "Leute auf Fotos" - so der Albumtitel ins Hochdeutsche übersetzt - besprechsingt Songschreiber Manuel Stahlberger mit lakonischem Humor und in kratziger Mundart. Trotz Mitwippfaktor klingt das weniger kleinräumig: Ständig schwellen diese Rocksongs zu vertrackten Steilwänden aus fiependen Synthies an. Wie schon der oberbayrischen Indieband The Notwist gab Produzent Olaf Opal diesem Album einen so fiebrigen Klang, dass es im besten Sinne ortlos klingt. Timo Posselt

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