Akustische Literatur:Die Stimmen der Brückenläufer

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Der Hauptstadt abgelauscht: Peter Cusacks "Berlin Sonic Places".

Von Tobias Lehmkuhl

Dieses Buch mit seiner eingelegten "Soundkarte" gäbe keinen schlechten Reiseführer ab. Mit ihm in der Hand ließe sich Berlin auf ganz ungewöhnliche Art entdecken: Mit den Ohren. Im Grunde aber braucht man das heimische Wohnzimmer gar nicht zu verlassen und kann sich die anstrengende Reise in die Hauptstadt sparen, schlägt man "Berlin Sonic Places" auf und öffnet auf der dazugehörige Internetseite die Audio-Files. Leichter lässt sich nicht teilhaben am Alltag der Stadt.

Man lauscht Tischtennisspielern am Rand der Panke, dem Wind auf dem Teufelsberg, den Ansagen an der S-Bahn-Station Gesundbrunnen, den Einkaufsgeräuschen in einem Kreuzberger Supermarkt oder dem regen Handel auf einem Flohmarkt in Treptow. Auch die touristischen Orte sind hier, befreit von den alle andere Sinneswahrnehmungen verdrängenden Bildern, neu zu erfahren. Das gedämpfte Brummen im Aussichtsrestaurant des Fernsehturms, das Treiben auf dem Alexanderplatz oder das Knattern der Lenkdrachen auf dem Tempelhofer Feld. Setzt man sich Kopfhörer auf, hat man den Eindruck, nicht tiefer in eine Stadt eintauchen zu können als eben über den Klang, denn der Klang vermittelt eine ganz andere, weitaus intensivere Erfahrung des Raumes als etwa eine Fotografie.

Dabei sind diese Klanglandschaften denkbar unspektakulär, ja ein eigenes Kapitel ist in "Berlin Sonic Places" der Frage gewidmet, warum sie leiser ist als andere europäische Hauptstädte. Die Antworten sind vielfältig: Die Straßen seien breiter, es gebe sehr viele Grünflächen, außerdem gebe es viel mehr Fahrräder als in London oder Paris, es sei zudem (noch) nicht Sitte, Lautsprecher vor jedem Laden zu platzieren. Und dann gibt es natürlich noch die ruhigen Hinterhöfe, in denen das Knacken der Heizungsrohre häufig das lauteste Geräusch ist, das sich vernehmen lässt.

Field Recordings und daraus entstehende Soundscapes haben eine lange Tradition. Luc Ferrari und Murray Schafer waren Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre die Pioniere der Erforschung der musikalischen Struktur von Umweltgeräuschen, die ersten, die sie in Radiokompositionen überführten. Nun hat der 1948 in London geborene britische Klangkünstler Peter Cusack, den 2011 ein DAAD-Stipendium nach Berlin geführt hat, die Berliner Klanglandschaften akustisch eingefangen und auf je einer Doppelseite beschrieben und bebildert.

Zu hören ist in seinen "Berlin Sonic Places" nicht nur das, was man hören würde, schlösse man nur häufiger die Augen und nähme sich die Zeit, einmal genauer und länger hinzuhören. Zu hören ist zugleich auch, wie wir Großstädter wiederum von unserer Umwelt gehört werden. Am Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain hat Peter Cusack Kontaktmikrofone an einer Metallbrücke angebracht, so dass sich die Schwingungen der Schritte und die Stimmen der Brückenläufer wahrnehmen lassen, als wären wir selbst diese Metallstreben.

Wenn man sich auch eigens auf den Weg nach Berlin gemacht hätte, derartiges würde man vor Ort kaum hören können. Die Idee, die Spree mit Unterwassermikrofonen abzuhorchen, wird dem gemeinen Touristen ebenfalls kaum in den Sinn kommen. Auch alteingesessene Berliner erhalten dank dieses "Brief Guide" die Gelegenheit, ihre Stadt noch einmal ganz neu zu entdecken.

Peter Cusack: Berlin Sonic Places. A Brief Guide. Mit Audio-Files und Sound Walk Map. Wolke Verlag, Berlin 2017. 96 Seiten 12 Euro.

© SZ vom 02.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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