63. Filmfestival in Venedig:Syndrome für ein Jahrhundert

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Jia Zhang-Kes "Still Life" ist der Sieger in einem großen Realo-Wettbewerb.

Susan Vahabzadeh

Zwölf Tage lang kam es einem so vor, als sei das Kino in Venedig zuhause, man huldigte seiner Zukunft, als ob es eine hätte, und seiner Vergangenheit, als würde sie noch jemanden interessieren. Festivals sind eigentlich homogene Veranstaltungen, dem Kino liebevoll zugetan. Eigentlich. Trotzdem macht sich manchmal Miesepetrigkeit breit.

Es ist an der diesjährigen Auswahl herumgemäkelt worden, sie sei eher enttäuschend gewesen. Warum eigentlich? Ein Festival mit 22 supertollen Wettbewerbsfilmen gibt es nicht. Eines mit einem halben Dutzend würdiger Preisträger ist eher eine Seltenheit - und eine solche Rarität ist Venedig in diesem Jahr gewesen. Was für Filme hätten sich die Venedig-Verächter denn aber gewünscht? Großes amerikanisches Kommerzkino? Als hätte man davon nicht schon genug.

Es gab keinen guten Grund zur schlechten Laune, außer vielleicht den, dass die Apokalypse, traut man den prophetischen Gaben der Filmemacher, eine ausgemachte Sache ist. Am ausgeprägtesten war das sicherlich bei Alfonso Cuaróns Endzeitdrama "Children of Men", in dem keine Kinder mehr geboren werden und London zugepflastert ist mit Plakaten, die dazu auffordern, alle Immigranten zu denunzieren, auch wenn man mit ihnen befreundet ist.

"Sicherheit ist keine Einschränkung"

Kam man in das wie ein Hochsicherheitstrakt abgeschottete Festivalzentrum im Casino am Lido, hingen an den Wänden überall Plakate mit der Aufschrift "Sicherheit ist keine Einschränkung". Ein bisschen mulmig kann einem bei solchen Ähnlichkeiten schon werden. Aber Cuarón hat, nichtsdestotrotz, einen der besten Filme in diesem Venedig-Jahrgang gemacht - wenn er am Ende auch nur mit einem Nebenpreis für die Kamera bedacht wurde.

Gemessen an Cannes 2006, wo harte filmische Arbeit, die wie die beiden Preisträger "The Wind that Shakes the Barley" und "Flandres" eher freudlos wirkt, auf bunte Spektakel wie "Da Vinci Code" traf, war Venedig auf jeden Fall die sinnlichere und cinephilere Veranstaltung. Einen Mangel an Ernsthaftigkeit, an Willen, sich mit der Realität und dem Elend der Welt auseinanderzusetzen, kann man diesem Wettbewerb trotzdem nicht unterstellen. Man könnte von der 63. Mostra durchaus behaupten, dass die drohende Konkurrenz eines finanziell besser ausgestatteten Festivals in Rom, das im Oktober erstmals stattfinden wird, eher zur Profilierung in Sachen Kino geführt hat.

Marco Müller hat ein Programm gebastelt, in dem viel zusammenfand, ein Bezug auf die sechziger Jahre und die Sehnsucht nach einer neuen Aufbruchstimmung auch außerhalb des Wettbewerbs immer wieder eine Rolle spielten; und dieses Programm wurde gleichzeitig ganz unterschiedlichen Vorstellungen vom Kino gerecht.

Die bedächtigen strukturellen Spielereien von Apichatpong Weerasethakul, der in "Syndromes and a Century" damit experimentiert hat, den selben Plot nach der Hälfte noch mal neu zu inszenieren, und die nüchterne Perfektion von "Children of Men" haben nichts miteinander gemein - außer vielleicht der Präzision beim Hinschauen, beim Entdecken, was die völlig normalen Gegenstände um uns herum eigentlich bedeuten. Ohne die Experimentierfreude eines Filmemachers, der sich nicht drum schert, ob sein Film massentauglich ist, würde sich jedenfalls im Gebrauchskino, das in jedem Multiplex zu sehen ist und demnächst auf DVD, nichts weiterentwickeln. Visuelle und strukturelle Experimente haben fast nur noch auf Festivals eine Chance, auf der großen Leinwand gezeigt zu werden.

Dass es im Kino, jenseits der Größe der Leinwand, eine Form der Konzentration gibt, die sich auch dann nicht im heimischen Wohnzimmer herstellen lässt, wenn man sich dort einen Riesenbildschirm installieren lässt - das kann man heute kaum noch jemandem erklären. Die gedankliche Schlichtheit vieler kommerzieller Filme wird zwar beklagt, aber warum sie so sein müssen, will keiner mehr wissen.

Die 22 Wettbewerbsfilme verband eine erstaunliche Dichte an realen Bezügen, verfilmten Tatsachen, aktuellen Problemen - in schrecklich schönen Bildern Das spiegelt sich auch in den Entscheidungen der Jury. Einen Drehbuchpreis für Peter Morgan gab es zum Beispiel und eine Coppa Volpi, den Darstellerpreis, für Helen Mirren als Elizabeth II. in "The Queen" von Stephen Frears, der sich mit den Fallen der medialen Welt am Beispiel von Elizabeth II. nach dem Tod von Prinzessin Diana und der vorhersehbaren Machtkorrumpierung von Tony Blair befasst - und der fertig war just zu jenem Zeitpunkt, als seine Demontage anstand. Ein realer Todesfall in der Traumfabrik der fünfziger Jahre, "Hollywoodland", brachte Ben Affleck - den hatte tatsächlich niemand auf der Liste - ebenfalls eine Coppa Volpi.

Der Spezialpreis der Jury ging an "Daratt" von Mahamat-Saleh Haroun, der die Möglichkeiten einer sehr persönlichen Aussöhnung nach dem Krieg im Tschad auslotet - ganz leise und ruhig entspinnt sich hier eine Beziehung zwischen einem Kriegswaisen und dem Mörder seines Vaters, den er eigentlich umbringen wollte.. Und den Preis für die beste Kamera bekam Emmanuel Lubezki für den erschütternden Realismus von Cuaróns sehr gegenwärtiger Science-Fiction "Children of Men".

Den Goldenen Löwen hat Jia Zhang-Kes "Still Life" bekommen, der ebenfalls sehr nah dran geblieben ist an realen Ereignissen: Er erzählt vom Bau des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse in China, von Menschen, die einander suchen in einer kleinen Stadt, die es bald nicht mehr geben wird - die Flutung steht bevor, die Häuser werden abgerissen, überall quellen aus den Gerippen der Häuser die Dinge, die mal ein Zuhause ausgemacht haben, Spielzeug, zurückgelassene Möbel und alte Kleider.

Chinesen haben es schwerer

"Still Life" zum Sieger in diesem Realo-Wettbewerb zu erklären, das hat auch mit tatsächlichen Ereignissen in dieser Woche zu tun - Jia Zhang-Ke hat es, als Chinese, schwerer von Realitäten zu erzählen als andere. Sein chinesischer Kollege Lou Ye wurde gerade mit einem fünfjährigen Arbeitsverbot belegt wegen des Films, den er im Mai in Cannes im Wettbewerb gezeigt hat, "Summer Palace".

Dort kommen, allerdings unkommentiert und nur am Rande, die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens 1989 vor - Grund genug, Lou Ye in Peking ordentlich Ärger zu machen. Um Diskussionen im Vorfeld zu vermeiden, wurde "Still Life" in Venedig als Überraschungsfilm gezeigt, Zhang-Ke hat auch eine geschnittene Fassung fürs chinesische Kino hergestellt und eine Freigabe bekommen - trotzdem hat er den weitaus kritischeren Film gemacht als Lou Ye. So viel Mut muss jeder Jury imponieren.

Ansonsten hat diese Jury sich kräftig anstecken lassen von der Cinephilie, mit der dieser Wettbewerb zusammengestellt war, hat sich mitreißen lassen, von der wunderschönen Tristesse in Alain Resnais' Reigen der Einsamkeiten, "Cœurs - Private Fears in Public Places"', und ihm den Regiepreis gegeben; und hat sich gar einen Sonderlöwen abgerungen für Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs "Quei loro incontri" - für die "Innovation der Sprache im Kino", eine Benennung, die einem gerade in diesem Fall etwas eigenwillig vorkommen kann. Der Preis wird wohl rückwirkend verliehen für bereits geleistete Dienste am Kino. Aber auch das gehört dazu.

© SZ vom 11. September 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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