61. Filmfestival von Locarno:Der Horror der Hinterstube

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Was gibt es Neues aus Locarno? Einen Techno-DJ auf Entzug, Extrem-Sportler im Einsatz und weitere Personen, die in drei Tagen tot sind.

Fritz Göttler

Er hat gekniffen, hat sich dem großen Auftritt verweigert. Michel Houellebecq ist nicht zur Pressekonferenz erschienen, die am vorigen Freitag angesetzt war für seinen Film "La possibilité d'une île", der in der Reihe "Play Forward" Weltpremiere hatte.

Großes Kino am großen Platz: Die Piazza Grande füllt sich allabendlich mit Filmfans. (Foto: Foto: dpa)

Hatte der Starautor tatsächlich Fracksausen gehabt, oder wollte er nur noch mal zeigen, dass er sich an die Spielregeln des Kulturbetriebs nicht zu halten gedenkt und nicht an die Gebote der Höflichkeit?

Die Kritiker, die französischen zumal, haben Houellebecqs erste Spielfilmregie ziemlich niedergemacht - noch schlimmer: mit grimmigem Spott überhäuft. Eine Farce! Dass einer, der sich in der Rolle des Enfant terrible sichtlich wohlfühlt, nun zum dummen kleinen Scheißer deklassiert wird, das tut schon weh.

Was Literaten und Intellektuelle immer wieder bewegt, den Schreibtisch zu verlassen und die Mühsal der Filmregie auf sich zu nehmen, ist in der Kinogeschichte eins der großen ungelösten Rätsel geblieben. Neben Houellebecq waren zwei weitere Film-Debütanten aus der Literatur nach Locarno geladen - Alessandro Baricco auf die Piazza Grande mit "Lezione 21" und Händl Klaus mit "März" in den Wettbewerb.

Bei Baricco geht es um die große, die ultimative, die finale Kunst, um Beethovens Neunte. Der eine Held des Films ist der Professor Mondrian Killroy (John Hurt), der sich in einer legendären Vorlesung - Nummer 21! - zu diesem Weltkulturstück geäußert hat. Der Professor hat sich auf die überschätzten Werke der Künste spezialisiert - welche im Einzelnen in diese Kategorie fallen, soll hier verschwiegen werden.

Der andere Held ist der junge Musiklehrer Peters, der im Winter 1824, wenige Monate nach Beethovens Tod, auf einem zugefrorenen See in der Nähe von Wien tot aufgefunden wird. So fest umklammern seine Hände seine Geige, dass er mit seinem Instrument begraben werden muss.

Benno Führmann und Florian Lukas mit bairischen Dialekten

Was Kunst ist, ihre Bedeutung, ihre Ausübung, ihre Beharrlichkeit, das hätte man an dieser Figur studieren mögen, aber Baricco versenkt sie in eine fellinieske Parade grotesker Figuren, und ist vor allem daran interessiert, zum Verdikt über die Neunte zu kommen - dass dies keine moderne Musik sei!

Vom Tod, der im österreichischen Kino omnipräsent zu sein scheint, handelt auch "März", drei Jungs haben sich eines Nachts ins Auto gesetzt, die Fenster abgedichtet, die Auspuffabgase in den Wagen geleitet. Was die Familien danach am Weiterleben hält, ist ein Alltag, der von einer merkwürdigen Abwesenheit bestimmt wird, einer Gleichgültigkeit in den kleinsten Gesten, dem instinktiven Abwenden der Blicke, der Sinnlosigkeit emotionaler Impulse. Wie hier im kleinen Kreis Kuchen gegessen wird, selbstgemachter, das macht "März" zum kleinen Hinterstuben-Horrorfilm.

Den richtigen Horror aus Österreich brachte Andreas Prochaska mit seinem neuen "In 3 Tagen bist du tot"-Schocker, natürlich auf der Piazza Grande. Stärker als der Wettbewerb - in dem dieses Jahr denn doch viele routinierte, ein wenig fade Pflichtstücke sich tummelten - ist dieses Freiluft-Massenkino - 7000 Zuschauer! - die Attraktion von Locarno.

Ein Kino, das paradoxerweise auch außer Sichtweite der Leinwand funktioniert, denn das Scharren, Keuchen, Schreien erfüllt die schwüle Nacht, dringt in die Gassen und die Zimmer abseits der Piazza. Man verzichtet inzwischen auf Experimente hier, sucht die Filme nach dem "The show must go on"-Effekt hin aus.

Das galt auch für die beiden deutschen Beiträge, "Nordwand" und "Berlin Calling". Philipp Stölzls "Nordwand" führt, während im fernen Peking die Olympischen Spiele anliefen, auf einen Olympia-Nebenschauplatz im Jahr 1936. Es geht um die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand, und natürlich sollen auch deutsche Helden dort den Sieg erringen. Der Film ist eine deutsche Mega-Grande-Produktion, und er tat sich schwer mit den bairischen Dialekten, die seine Stars Benno Fürmann und Florian Lukas abliefern sollten.

Die größte Spieldose der Welt

Sehr viel leichter tat sich der deutsche Mega-Star, DJ Paul Kalkbrenner, der in Hannes Stöhrs "Berlin Calling" die Rolle seines Lebens spielt, einen Techno-Wuchtbrummer der Spitzenklasse, der in die Drogenkrise gerät und zwischen den Versatzstücken des Entzugsfilms randaliert. Nach der Vorführung zog Kalkbrenner persönlich auf der Piazza einige Nummern durch, große Stimmung! Kino, das nur noch mechanisch pulsiert, die Piazza als größte Spieldose der Welt.

Das wirkliche Leben ist anderswo in Locarno, der konzentrierte Blick, der für Details und Stimmungen empfänglich ist - in den zahlreichen Nebenreihen, in der Retrospektive, die diesmal Nanni Moretti gewidmet ist und seinem Kino der Bescheidenheit, das sich ab und zu den Luxus einer Sachertorte mit einer großen Portion Schlagsahne leistet.

Eine eigene Abteilung der Retro bestritt er mit den Filmen, die ihm als Kinobetreiber in Rom besonders am Herzen liegen, darunter war unter anderen Edgar Reitz mit zwei "Heimat"-Episoden vertreten. Aufregende neue Heimatfilme kamen diesmal aus Südamerika, aus Mexiko "Parque Vía" von Enrique Rivero, aus Chile "Alicia en el País" von Esteban Larraín, Filme, die das Innen und das Außen miteinander konfrontierten, die persönliche Welt, die einem in der kaputten Realität die wirkliche ersetzen muss.

Die Nouvelle Vague, von Moretti eher misstrauisch beäugt, lässt sich nicht unterkriegen, Pierre Léon bringt Dostojewskis "Idiot" auf die Leinwand, schwarzweiß, in Rivette-Manier, mit Jeanne Balibar, und im grotesk-zynischen Filmkritikeralltag, wie ihn Lionel Baiers "Un autre homme" skizziert, klingt leise Trauer durch an die glorreichen Zeiten der Cahiers-Bande.

Die Stadt Lausanne ist hier ein seelen- und geistloser Ort, im nächsten Jahr wird Locarnos amtierender Festivalchef Frédéric Maire dort Chef der Cinémathèque werden. Man sucht einen neuen Mann, und hofft auf eine neue starke Perspektive.

© SZ vom 14.8.2008/sst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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