60. Filmfestspiele in Cannes:Ein ausgezeichneter Jahrgang!

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Bilder, die den Schlaf rauben: Quentin Tarantino, Julian Schnabel, Michael Winterbottom und Carlos Reygadas laden ein in die Achterbahn der Emotionen. Ein palmenverdächtiger Frühling!

Susan Vahabzadeh

Wenn das Treiben auf der Straße bizarrer wirkt als das auf den Leinwänden, ist irgendwas faul. Nicht am Kino, das ist in Ordnung, aber die Welt ist es nicht. Filmfiguren werden oft akribisch auf ihre Motivation hin untersucht, eine Prozedur, der Menschen aus Fleisch und Blut oft nicht standhalten würden.

Ein Drehbuchautor müsste jedenfalls lange basteln, bis er den Mädels in weißen Schlabbershirts die vor dem Festivalpalast Gratisumarmungen verteilen, eine glaubwürdige Motivation in die Seelen geschrieben hätte, und manche Kostümierung, die die Damen in der Nacht auf der Croisette spazieren tragen, ergäbe höchstens auf dem Weg zu einem Helmut-Newton-Foto-Shooting einen Sinn.

Vorsicht ansteckend!

Quentin Tarantino, zur zweiten Cannes-Woche für den Promifaktor zuständig und eigentlich König des bizarro universe, ist ein Effekt gelungen in seinem "Death Proof" der natürlicher aussieht als das Leben. Die erste Hälfte ist ein solch vollkommener siebziger-Jahre-Kostümfilm, dass man ganz irritiert ist, wenn die Leute zum Rauchen auf die Veranda gehen; immer wieder forscht er da in den Gesichtern seiner Heldinnen, während sie sich auf den Weg machen in eine merkwürdige Nacht, filmt liebevoll zarte Krähenfüßchen und botoxfreie Stirnen - was es im Kino sonst kaum noch gibt, ein nachgerade rührender Anblick.

Überhaupt sind die Neugier und die Besessenheit ansteckend, mit denen er die vier umkreiselt, ihnen auf die Pelle rückt, sich leidenschaftlich an einem wirklich sehr hübschen Fuß weidet, der allerdings später dann, mit dem halben Bein dran, auf der Straße landet. Auch der Film selbst hat einiges hinter sich an - je nachdem - Zerstückelung oder Umgestaltung.

pick yourself up, dust yourself off

Mit seinem Stück, ursprünglich Teil des Double Features "Grindhouse" , das er mit Robert Rodriguez schuf, musste Tarantino zurück in den Schneideraum, die Doppelhommage ans Trash-Kino der Siebziger war in den USA an den Kinokassen durchgefallen. In "Death Proof" geht Kurt Russell als eine Art Autokiller auf Frauenjagd; in der ersten Variante höchst erfolgreich, in der zweiten lassen sich die Damen nicht in die Flucht schlagen.

Sie rappeln sich auf, stauben sich ab und legen los, um den Jäger zur Strecke zu bringen. Sie reagieren, als hätte ihnen Camille Paglia Verhaltensregeln auferlegt, pick yourself up, dust yourself off... Die drastische Sprache und die Gewaltausbrüche zeugen von jenem Frauenbild, das Tarantino schon in "Kill Bill" zelebriert hat. Ansonsten bleibt der Film ein Leichtgewicht - irgendwie geht's eigentlich um nichts.

Der Schmetterling unter der Taucherglocke

Bei Julian Schnabel geht es darum, was Leben ist und warum man dran hängt - ein komplett gelähmter Held nimmt Abschied von der Welt, und so schwer ihm das Weiterexistieren auch fällt, so hält es doch immer noch Wunder parat: eine imaginierte Schlemmerei, das wunderschöne Gesicht seiner Sprachtherapeutin, den Anblick seiner Kinder. Schnabel hat das Buch "Le scaphandre et le papillon" verfilmt, auf deutsch unter dem Titel "Schmetterling und Taucherglocke" erschienen.

In der Taucherglocke ist Jean-Dominique Bauby gefangen nach einem Schlaganfall, leidet an einem Locked-in-Syndrom; der Schmetterling ist seine Phantasie, die ihn daraus befreit. Nur durch Augenzwinkern konnte er noch seine Memoiren diktieren, die Julian Schnabel mit Mathieu Amalric am Rande des Experimentalfilms inszeniert hat, als wilden Rausch von Erinnerungsfetzen und Träumen, immer wieder zwingt er einen in Baubys eingeschränkte Perspektive auf die Welt. Man ist fix und fertig hinterher, aber irgendwie auch zufrieden. Und uns tatsächlich in die Identität von jemand anderen eintreten, seine Wahrnehmung spüren zu lassen, das gehört zum Schönsten, was das Kino bewerkstelligen kann.

Drei würdige Palmenanwärter in sieben Tagen - Cristian Mungiu, Seidl, Schnabel -, das ist ein deutliches Indiz für einen guten Cannes-Jahrgang. Insgesamt hat Festivalchef Thierry Frémaux ein Programm zusammengestellt, das weder unterhaltungsfeindlich wirkt noch den Filmen hinterherläuft, die ohnehin in ein paar Wochen in jedem Multiplex der Welt zu sehen sind; ein Programm mit wiederkehrenden Themen, mit Bildern, die einander etwas zu erzählen haben - die anrührende Hilflosigkeit von Ulrich Seidls Pflegefällen in "Import/Export" und des Helden in "Schmetterling" handeln davon, dass es keine Grenzen des Lebenswerten gibt, machen die sprachlosen Helden von Kim Ki-duk und Andrej Zviagintsev zu Schwächlingen.

Hart aber fair

Aber bislang verhallt fast nichts davon im Allgemeinen Rauschen, eine Spannung entsteht, in der Assoziationen möglich werden, die Bilder im Kopf sich gegenseitig inspirieren und nicht einfach bloß überlagern - mehr kann man von Cannes gar nicht verlangen. Von drei Meisterwerken täglich nonstop sich auf emotionale Achterbahnfahrten schicken zu lassen - das wäre auch hier unerträglich. Und fragwürdige Wettbewerbsteilnehmer hat es bislang nicht gegeben.

Michael Winterbottom, fester Bestandteil der Cannes-Familie, nimmt mit "A Mighty Heart" diesmal nicht am Wettbewerb teil, was irgendwie auch in Ordnung ist. Er hat, mit Angelina Jolie in der Hauptrolle, die Erinnerungen der Ehefrau von Daniel Pearl verfilmt - schildert die Zeit, im Januar 2002, von der Entführung des amerikanischen Journalisten bis zum Auffinden seiner Leiche in Pakistan.

Winterbottom ist ein wahrhaft virtuoser Filmemacher, der eine unglaubliche Bandbreite an Stilmitteln und die unterschiedlichsten Ansätze beherrscht, von sperrigem Politkino bis poetischer Science-Fiction. In "A Mighty Heart" ist die Kamera permanent in Bewegung, Marianne Pearls Unruhe beherrscht die Bilder bis zu jenem Moment, als sie erfährt, dass ihr Mann enthauptet wurde.

Aber irgendwie ist die Geschichte dieser Journalistin, die am Ende trotz allem von den politischen Standpunkten nicht abweichen will, die einmal ihr Interesse für den Nahen Osten entfacht haben, vielleicht einfach zu eben und selbstverständlich erzählt, um mit den Unruhestiftern zu wetteifern, deren Bilder einen um den Nachtschlaf bringen - wie jene von Julian Schnabel oder Ulrich Seidl.

Tiefsinniger Fußfetischismus

Carlos Reygadas' "Stellet Licht" spielt in einer Gemeinde in Mexiko, in der Mennoniten leben, die einen altertümlichen plattdeutschen Dialekt sprechen und die meisten Segnungen des Fortschritts ablehnen - Melkmaschinen sind okay, Fernseher nicht. "Stellet Licht" ist ein Film, bei dem man das Gefühl nicht los wird, man hätte irgendwas verpasst, eine zentrale Szene, die einem den Weg weist in diesem Labyrinth der kryptischen Dialoge.

Nach sehr, sehr langer Zeit und sehr, sehr langen Gebeten um den Familientisch dämmert einem, dass es nicht ums Kühehüten geht - dass man längst in einem Ehedrama steckt. Johan hat sich in eine andere Frau verliebt, hat das Zuhause auch gebeichtet, und eigentlich fühlt er sich ganz wohl mit seinem Doppelleben zwischen Kinderbaden im Freien und Schäferstündchen mit der Geliebten. Aber die Frauen goutieren die Dreierkonstellation nicht besonders, und Johan hat nach dem ersten Regelbruch Blut geleckt, die Berührungsängste mit der Welt draußen verloren.

Reygadas erzählt davon sehr langatmig, in schier endlosen Einstellungen. Da wird das Bild unscharf, und dann zoomt er, immer noch in der Unschärfe, auf eine Blume und fährt wieder zurück, und währenddessen hat man viel zu viel Zeit, sich zu fragen, was für einen Gedanken er damit eigentlich auslösen will. Die Unschärfe als Zeitphänomen? Das ist dann doch nicht sehr viel tiefsinniger als Tarantinos Fußfetischismus.

© SZ v. 22.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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