59. Filmfestival in Cannes:Brot statt Spiele

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Spannend bis zum Schluss: Wieder einmal wurde mit dem Genrekino experimentiert, aber gewonnen haben die Sozialdramen.

Susan Vahabzadeh

Was ein guter Jahrgang ist oder ein schlechter, da sind sich meist alle einig.

Kino als Projektionsfläche der Erwartungen (Foto: Foto: AFP)

Ob es mittelprächtig war oder prächtig, das ist schon schwieriger zu entscheiden - das ist eine Frage der Definition: Sind drei gute, aber nicht großartige Filme in Folge besser als zwei Totalausfälle und ein Meisterwerk?

Es geht bei Filmfestivals, und vor allem bei dem in Cannes, wo sich mehr Menschen zur großen Welt-Werkschau zusammenfinden als irgendwo sonst, jedenfalls keinesfalls darum, dass jeder alle Filme gleichermaßen liebt.

Den Zustand des Kinos kann man sonst nirgendwo wirklich erkennen. Hier kann man sehen, wie unterschiedlich die Blicke und Herangehensweisen sind.

Die Darstellerpreise an Almodãvars Frauen aus "Volver" und Boucharebs Männer in dem sehr ehrbaren "Indigènes" über ausgebeutete Soldaten aus den französischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg, das geht in Ordnung; den Drehbuchpreis hat Almodãvar für seinen großartigen "Volver" verdient, wenn nicht mehr.

Aber die Goldene Plame für "The Wind that Shakes the Barley" von Ken Loach, der hier schon verschiedene Preise erhalten hat, ein Preis für "Red Road", der Grand Prix für Dumonts "Flandres" - das ist Brot anstatt Spiele.

Vom großen Stilisten Wong Kar-Wai als Jurypräsident hätte man anderes erwartet. Originell oder abwegig sind die Entscheidungen nicht - Sozialdramen als Sieger haben Tradition in Cannes.

Aber dieser Wettbewerb - "eine Wolke von Wundern", schwärmte Wong Kar-Wai - war spannender, als die Entscheidungen der Jury vermuten lassen. Auch wenn man nicht so recht weiß, welche Emotion Pedro Costa, dessen "Juventude em Marcha" schwerer zugänglich ist als seine früheren Filme, von einem erwartet - an seinem Film scheiden sich wenigstens die Geister.

Auch über "Marie-Antoinette", gleichsam ein Gegenstück zu den ehrbaren Gewinnerfilmen, kann man streiten - ob Sofia Coppola tatsächlich nur eine Oberfläche abgebildet hat mit ihrem Porträt der Königin als jungem Popstar.

Kino als Projektionsfläche der Erwartungen

Ob es nicht reicht, wenn man dort Dinge entdecken kann, die sie sicherlich selbst so klar nicht vorhatte - in den Diskussionen über den Film tritt beispielsweise durchaus zutage, dass wir dem Umstand, dass diese Frau geköpft wurde, wesentlich gelassener gegenüberstehen als der Ermordung der Zarenfamilie.

Heiligt der Zweck die Mittel, oder gilt das für gar keinen Fall? Das Kino ist eben auch eine Projektionsfläche der Erwartungen, weite Teilen dessen was man sieht, entstehen erst im Prozess der Wahrnehmung. Die Bilder sind nicht von vornherein Wahrheiten, man füllt sie mit Meinungen an.

Die 59. Filmfestspiele in Cannes waren so gesehen kein schwacher Jahrgang. Wer für die letzten Wettbewerbstage noch mal drei ganz unterschiedliche Höhepunkte parat hat, der muss ganz gute Arbeit geleistet haben, als er seine Filme ausgewählt hat.

Grusel, der sich aus dem realen Hintergrund speist

Da kam beispielsweise noch "Crãnica de una fuga" des Argentiniers Israel Adrián Caetano - der erzählt von der Folter der Militärjunta nach den Regeln des Genrekinos, einen bösen Horrorthriller hat er draus gemacht, in einer gespenstischen Villa.

Dabei hält er sich an Zeugenaussagen aus einem Prozess, und der Schock sitzt dann doch tiefer und an einer anderen Stelle als im normalen Genrekino, das immer blutrünstiger und drastischer wird - der Grusel speist sich gleichzeitig aus dem realen Hintergrund, der einen erheblichen Unterschied macht, und dem, was man nicht sieht. Die Phantasie ist schlimmer als alles, was man in ein Bild packen kann.

Die Spannung zum Schluss kam überraschend, was daran liegt, dass endlich der Nachwuchs am Werk war. Es ist dann doch erfrischend, wenn junge Regisseure ihr Terrain gerade erst entdecken. Xavier Giannoli hat einen der vollkommensten Filme des Programms gemacht mit seiner bittersüßen Komödie "Quand j"étais chanteur" - das ist die Art von Film, bei der man hinterher den Eindruck hat, das Kino als besserer und gesünderer Mensch zu verlassen.

Der Mexikaner Guillermo del Toro hat in "Pans Labyrinth" Fantasy mit Antifaschismus gemengt, die Geschichte einer Rebellengruppe im Wald, die den Kampf gegen die Übermacht der Francisten am Ende des spanischen Bürgerkriegs nicht aufzugeben bereit ist, wird verwoben mit der Feengläubigkeit eines Mädchens zu einem mystischen Widerstandsmärchen.

Die Starregisseure und Festivalstammgäste sind oft viel zu arriviert, sind sich über das, was sie wollen, schon so im Klaren, dass ihre Filme einander zu ähnlich, ihre Themen zu festgelegt sind, um noch überraschte Leidenschaften zu entfachen. Es gibt eben nur sehr wenige Filmemacher, die eine Spannbreite haben wie Michael Winterbottom.

Aki Kaurismäkis diesjähriger Wettbewerbsbeitrag "Lights in the Dusk" ist schön geworden, aber irgendwie kommt es einem vor, als kenne man die Menschen und die Räume und den Buster-Keaton-Charme schon in- und auswendig; was Bruno Dumont in "Flandres" über das Verhältnis von Männern und Frauen zu sagen hat, ist zwar finster und wirkt etwas emotional gestört, aber uninteressant ist es nicht. Es weist aber nicht hinaus über seinen vorigen Film "29 Palms".

Man konnte in diesem Wettbewerb durchaus den Eindruck gewinnen, dass das amerikanische Kino - das lateinamerikanische, stark vertreten, inklusive - und das europäische gerade auseinander driften, was die Perspektiven betrifft, ein Eindruck, der sich in der Nebenreihe "Un certain regard" fortsetzt.

Die Weltals hässliche Fratze

Richard Linklaters Filme im Wettbewerb und in "Un certain regard", "Fast Food Nation" und "A Scanner Darkly", Inárritus "Babel", Francisco Vargas" "El violon" über den Freiheitskampf der Indios in der Nebenreihe - das ist der Blick auf Gesellschaften, wenn nicht auf die ganze Welt; die Europäer aber, Almodãvars "Volver", Kaurismäki, Nuri Bilge Ceylan mit "Iklimler", Andrea Arnold mit "Red Road", erzählen sehr private Geschichten.

Kommunikationsunfähigkeit ist in fast all diesen Filmen ein Thema: Im Grunde haben das Scheitern des Helden in "Iklimler", der seine Emotionen für seine Freundin nicht ausdrücken kann, und die egoistische Kälte des rebellenmordenden Capitano im "Labyrinth" miteinander zu tun, die Überwachungsmonitore in "Red Road" und in "A Scanner Darkly" erzählen beide davon, dass man sehr viel über Menschen herausfinden kann, ohne sie zu verstehen.

Das Kino spiegelt die Welt, und es ist eine ziemlich hässliche Fratze, die man sieht. Kalt und gewalttätig, und selten war so viel Sex auf der Leinwand so unerotisch wie in diesem Programm - als Machtmittel oder reine Mechanik. Aber vielleicht ist auch da etwas dran.

© SZ vom 29.05.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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