Tanztheater:Den Teufel tanzend überlisten

Lesezeit: 3 min

Expressive Körperrhetorik, archaische Wucht: "Outwitting the Devil" deutet die Taten Gilgameschs als Prophetie für das 21. Jahrhundert. (Foto: Jean Louis Fernandez)

Helden- und Horrorvision: Der Choreograf Akram Khan führt in seinem neuen Stück das uralte Gilgamesch-Epos ins Anthropozän. Uraufgeführt wurde es beim Festival "Colours" in Stuttgart

Von Dorion Weickmann

Ein Mann schaut zurück. Er ist vielleicht fünfzig, sechzig Jahre alt, sein Körper schmal und sehnig. Er erinnert sich an den Ruhm einer großen Stadt, an gewaltige Festungsmauern und den Thron, auf dem er herrschte. Und an den Freund, der einen blutrünstigen Raubzug mit ihm unternahm. Daran, wie der Vertraute zugrunde ging, göttlicher Rache für ihren Frevel anheim fiel. Damals ist er zum ersten Mal dem Tod begegnet. Jetzt legt er sich selbst zum Sterben hin, drapiert seinen fahlen Leib auf einen Sarkophag. Eine Schrifttafel stützt seinen Kopf, das erloschene Gesicht starrt in den Himmel - in den Bühnenhimmel des Stuttgarter Theaterhauses.

Keine eineinhalb Stunden sind vergangen, seit das Licht über Akram Khans "Outwitting the Devil" ("Den Teufel überlisten") aufzuglühen begann. Aber die Bilder der Uraufführung, mit der das Tanzfestival "Colours" sein Finale bestritt, glühen nach. Weil sie das viertausend Jahre alte Epos von Gilgamesch - Gebieter der mesopotamischen Stadt Uruk, Vasall des eigenen Zerstörungstriebes - als Menetekel fassen. Als Wegweiser des Anthropozän und unseres Raubbaus am Planeten Erde. So verkündet es Khans Inszenierung mit den Stimmen und Körpern von sechs fantastischen Tänzern.

Die Beschäftigung mit mythologischen Stoffen zieht sich leitmotivisch durch das Werk des britisch-bengalischen Choreografen. Khan war zwölf, als ihn der Regisseur Peter Brook 1985 für sein Mammutprojekt "Mahabharata" engagierte. Der Junge aus Wimbledon, der seine Tanzerziehung MTV-Clips von Michael Jackson und indischen Kathak-Lehrern verdankte, fing Feuer. Tradition neu zu denken, ist Khans Mission, der Respekt vor spiritueller Weisheit sein Credo. Seit er vor bald zwanzig Jahren seine eigene Kompanie gegründet hat, ist er zum Star der internationalen Tanzwelt aufgestiegen. Seine Produktionen fesseln mit archaischer Wucht und expressiver Körperrhetorik, überzeugen mit aktuellen Bezügen. Das galt für "Kaash" (2002), für "Vertical Road (2010) und "Until the Lions" (2016). Und gilt nun auch für "Outwitting the Devil", das Heldenvision und Horrortat des Gilgamesch als Prophetie für das 21. Jahrhundert deutet.

Merke: Keine Tat bleibt folgenlos. Hybris führt zum Absturz

Die Episode, die Khan ins Zentrum des Abends rückt, ist die Vernichtung des Zedernwalds, die der König und sein Gefährte Enkidu anzetteln. Sie töten den Hüter des Biotops, fällen die Bäume und rotten aus, was in ihrem Schatten kreucht und fleucht. Die Schlächter wissen, dass sie Unrecht tun. Aber sie können sich nicht bremsen. Erst als Enkidu mit dem Leben für das Inferno bezahlt, dämmert Gilgamesch die Erkenntnis: Keine Tat bleibt folgenlos, nichts währt für immer und ewig. Schon gar nicht die menschliche Existenz.

Eine Botschaft, die leicht zur didaktischen Lektion verkommen könnte - wäre Khan nicht so klug gewesen, die Dramaturgin Ruth Little ins Team zu holen und die historisch ferne Handlung mit ein paar Kniffen heranzuzoomen. Der wichtigste ist die Dopplung der Hauptfigur: Der gealterte Gilgamesch taucht ab in den Strudel der Erinnerung und blickt der eigenen Jugend ins Gesicht, ihren dionysischen Ego-Räuschen und dämonischen Destruktionsschüben. Dominique Petit ist der alte, Sam Pratt der junge Herrscher. Ein fulminantes Duo, das Glanz und Elend der menschlichen Gattung bis an den Punkt treibt, wo ihre Hybris den Absturz provoziert. Was anno 2019 bedeutet: womöglich den Absturz des ganzen Ökosystems.

Das Zukunftsszenario, das in dem Stück rumort, ist so finster wie die Bühne

Während der junge Gilgamesch noch hemmungslos das Dasein anderer zertritt, schaudert den Alten vor jedem Gemetzel. Aber er kann seine Erfahrung nicht an die nächste Generation weiterreichen. Nichts bleibt, außer dem in Stein gemeißelten Substrat seiner mythischen Existenz. So finster wie die Bühne, so schwarz wie die Stelenlandschaft ringsum ist das Zukunftsszenario, das in dem Stück rumort.

Dass "Outwitting the Devil" ein pulsierender Organismus ist, eine die Publikumsfantasie packende Bestie, ist nicht zuletzt den vier Männern und zwei Frauen zu danken, die dem Stück Gestalt verleihen: Den Tänzern, die Khan aus allen Erd- und Stilkontinenten - vom indischen Bharatanatyam bis zum Ballett - zusammengerufen hat. Sie beatmen Flora und Fauna, Mensch und Gott, Täter und Opfer mit einer Bewegungssubstanz, die Ethno-Elemente in zeitgenössische Formen gießt. Da springt das Waldkind Enkidu über die Flur, mimetisch Vögel, Schafe, Spinnen nachahmend, bevor es gezähmt und dem Moloch Uruk einverleibt wird. Bisweilen scheint die Zeit still zu stehen, gefrieren Handklauen und Beinwinkel zum grotesk verzerrten Tableau vivant, das alle Energie sistiert. Umso rabiater die Attacke, wenn Held und Helfer in den Zedernwald eindringen, Wesen mit weit zum Schrei aufgerissenen Mündern und rücklings überstreckten Leibern hinwegfegen. Die Mechanik ihrer Gewalt zermalmt den Wächter, der erbittert Gegenwehr leistet. Bis Enkidu ihn zu fassen kriegt, Gilgamesch ihm das Genick bricht. Ein grausamer Todeskampf, für den der Spießgeselle nicht weniger grausam büßt. Eine Erinnye krallt sich in Enkidus Oberkiefer und schleift ihn rücklings über den Erdboden. Ein elendes Martyrium.

Lässt sich der Teufel tatsächlich überlisten? Diabolische Impulse sind ein starker Antrieb menschlichen Handelns. Akram Khan hat offenbar wenig Hoffnung, dass sie sich abwürgen ließen. Am 24. und 25. September gastiert seine radikalästhetische Abrechnung in Düsseldorf. Man muss sie gesehen haben.

© SZ vom 16.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: