175. Geburtstag der Fotografie:Als die Bilder bleiben lernten

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1933 in Porte de Versailles nahe Paris: eine Retrospektive anlässlich des 100. Todestags von Niépce (1765 - 1833), der die Fotografie mit Louis Jacques Mande Daguerre (1789 - 1851) erfand. (Foto: Getty Images)

Vor genau 175 Jahren kam in Paris die Fotografie offiziell zur Welt. Sie stammt aus bürgerlichen Verhältnissen - und dient bis heute dazu, Haben und Nichthaben voneinander zu unterscheiden.

Von Wolfgang Kemp

Der 19. August 1839, ein Montag, war ein sehr heißer Tag in Paris. Dessen ungeachtet, versammelte sich in und vor dem ehrwürdigen Sitz des Institut de France eine große Menschenmenge, um einer Sitzung beizuwohnen, zu der die Akademie der Wissenschaften und die Akademie der Künste gemeinsam eingeladen hatten. Es galt, der Pariser Öffentlichkeit und der Welt ein Verfahren vorzustellen und an die Hand zu geben, mit dem es gelang, die Bilder in der Camera obscura auf Dauer zu fixieren. Noch im selben Jahr kam dafür ein Begriff auf, der sich aber nur langsam durchsetzte: Fotografie.

Frankreich, das sich seit der Aufklärung als die führende Wissenschaftsnation verstand, hatte sich entschlossen, "diese Erfindung freigebig der ganzen Welt schenken zu wollen" - so der Politiker und Physiker François Arago, der diese Idee von Anfang an unterstützt hatte.

Der an jenem Augusttag vor 175 Jahren gefeierte Erfinder, Louis Daguerre, machte in einer kleinen Schrift die Geheimnisse seines Verfahrens, der Daguerreotypie, publik. Auf den Umschlag dieser Broschüre ließ er keck das Pantheon setzen, den Ehrentempel der Grande Nation. Wie schrieb Karl Marx so schön kurze Zeit später: "In Frankreich genügt es, dass einer etwas sei, damit er alles sein wolle."

Heute entstehen in jeder Minute Hunderttausende Digitalfotos

Samuel Morse, der Erfinder eines anderen Übermittlungsmediums, hatte die ersten Aufnahmen Daguerres schon im März studieren dürfen; er sprach von "einer der schönsten Entdeckungen des Zeitalters". Er konnte kaum ahnen, wie viele Zeitalter diese Entdeckung noch erleben und festhalten würde, wie lebensfähig sich das neue Medium erweisen sollte.

Schon im Jahr seiner Erfindung sagte der Schriftsteller und Journalist Jules Janin voraus, es werde ein Medium "in der Hand, in der Reichweite aller" werden. Bis hierhin hat das Lesen dieses Textes vielleicht zwei, drei Minuten gedauert. Während dieser Zeit wurden nur auf Flickr, dem größten Portal für digitale und digitalisierte Bilder, 100 000 Fotografien hochgeladen. Wer wagt es, die Zahl aller zur gleichen Zeit geschossenen Bilder zu schätzen?

Wie viele große Erfindungen kam auch die Fotografie gleich mehrfach zur Welt. Die Pariser Akademie der Wissenschaften hatte sie bereits am 7. Januar 1839 vorgestellt, sie musste aber bis August warten, um das Verfahren freizugeben, weil zuerst die Frage der Entschädigung der Erfinder zu klären war.

Wohl die erste erhaltene Aufnahme (circa 1843), die einen Fotografen bei der Arbeit zeigt (Foto: Getty Images)

Jährliche Pensionen an Daguerre und Niépce

Laut Parlamentsbeschluss gingen dann als jährliche Pensionen an Daguerre 6000 sowie an Isidore Niépce 4000 Francs. Letzterer war der Sohn und Erbe von Nicéphore Niépce, dessen Experimente schon in den Zehnerjahren angefangen hatten und der sich Daguerre als Kompagnon wählte, um das Verfahren zur Anwendungsreife zu bringen. Vater Niépce aber war 1833 verstorben.

Es meldete auch Hippolyte Bayard, ein Beamter des Finanzministeriums, ein Erstlingsrecht an: seine, von Daguerres und Niépces Verfahren stark abweichende Technik war in der Tat schon sehr weit gediehen, aber Bayard weigerte sich, die Geheimnisse seiner Methode offenzulegen. Daher erhielt er von Regierungsseite nur eine kleine Summe zur Anschaffung einer neuen Kamera.

Als Anfang 1839 erste Meldungen über das neue bildgebende Verfahren in die Zeitungen kamen, stellte ein englischer Forscher und Gentleman-Farmer mit Entsetzen fest, dass er schon vor Jahren eine leistungsfähige Methode der "fotogenischen" Aufzeichnung entwickelt hatte. Henry Fox Talbot verfolgte aber immer so viele Forschungsinteressen gleichzeitig, dass er leicht den Überblick verlor.

Noch im Januar 1839 zeigte er in der Royal Society in London Arbeitsproben seines Verfahrens, das sich ebenfalls stark von der Daguerreotypie unterschied: Letztere erzeugte auf versilberten Kupferplatten Unikate, während Talbot und Bayard mit Positiv und Negativ arbeiteten. Talbot nannte seine Papierbilder Kalotypien.

Einen Ursprung mit Betonung auf Sprung gab es in dieser Geschichte nicht, das sei im Hinblick auf das langsame, unsichere, oft alchemistisch genannte Trial- and-Error-Verfahren und die mindestens vier Parallelaktionen betont. Aber es gab eine Urszene oder besser ein Ursetting, ein ebenso formales wie formierendes Setting.

Das erste Bild von Louis Jacques Daguerre, das überlebte: Es zeigt eine Sammlung von Gipsabdrücken auf einem Fenstervorsprung. (Foto: Getty Images)

Ein verweltlichtes Kloster als Kamera-Objekt

Talbot führte vor der Royal Society 1839 aus: "Im Sommer 1835 fertigte ich mit diesem Verfahren eine große Zahl von Abbildungen meines Hauses auf dem Lande an (. . .) , und ich glaube, dieses Gebäude dürfte das erste sein, das sein eigenes Bild gezeichnet hat." Wie das ein Haus praktisch anstellt, sich selbst abzubilden, kann man nicht zeigen.

Nur das fertige Bild des Hauses zeugt indirekt von diesem Prozess, aber als Ersatz mag die schöne Kalotypie einer Bildproduktion im Privathaus einstehen: Talbots Verwandte Emma Thomasina Dillwyn Llewelyn schaut nach ihrem Printing Frame und wie weit das Positiv wohl gediehen ist, welches das Licht durch das Negativ hindurch aufzeichnet. Eine Heimwerkerin der Fotografie, aufgenommen von ihrem Ehemann John Dillwyn Llewelyn im Jahr 1853.

Lacock Abbey, Talbots Landsitz, ein in der Säkularisation umgewidmetes Kloster, wurde von ihm in zahlreichen Aufnahmen ein weiteres Mal "verweltlicht", als Objekt unter dem Objektiv der Kamera. Der Ort schrieb sich noch ein zweites Mal in die Mediengeschichte ein: Er stellte die Kulisse für die Hogwarts-Zauberschule der Harry-Potter-Filme.

Die älteste Fotografie

Nicéphore Niépce, der Kompagnon von Louis Daguerre, lebte ebenfalls in einem Haus auf dem Land, bei Chalon-sur-Saône in Burgund. Er fing um 1816 an, immer wieder den Blick durch das offene Fenster seines Arbeitszimmers im Obergeschoss aufzunehmen, die Fensterflügel zurückgeschlagen, auf Hof und Nebengebäude gerichtet. Dies war also in Wirklichkeit das erste Haus, das sich selbst abbildete. Es hat sich nur eine Aufnahme aus dieser Serie erhalten, die in der Universität von Texas in Austin verwahrt wird und als älteste Fotografie gelten darf.

Daguerre fotografierte von seinem Privathaus in der Rue de Marais den Boulevard du Temple. Zwei Aufnahmen, eine um acht Uhr morgens, eine auf die Mittagsstunde datiert, setzte er als Flügel des "Münchner Triptychons" ein, das er 1839 dem bayerischen König zum Geschenk machte. In die Mitte aber kam eine Silberplatte mit einem Stillleben, aufgenommen im Inneren, in seinem Atelier. Ein Bild im Haus, zwei Bilder vom Haus aus, eine simple Struktur: das Äußere ist außen, das Innere ist innen. (Das Stillleben ist verloren, die Stadtlandschaften sind in älteren Reproduktionen überliefert.)

Bayard schließlich machte es wie mancher Beamter: Neben seiner offiziellen Tätigkeit tat er noch etwas anderes. Bayard stellte die Kamera ins Fenster seines Büros, öffnete den Verschluss und ließ sie ruhig vor sich hin arbeiten, parallel zur Schreibtischarbeit im Finanzministerium. Später fotografierte er vom Dach des Ministeriums aus: Stadtlandschaften, die im Wesentlichen aus Dächern und Kaminen bestehen. Die Kamine geben einem einen Foucaultschen Gedanken an "surveillance", an Überwachung ein, denn der Herd diente dem Finanzkataster als primäre Erhebungsgröße.

Vier Bürger haben die Fotografie erfunden, und sie haben auf ihre Weise die Klassenziele erreicht, die der Bourgeoisie als erstrebenswert erschienen. Niépce war wie Talbot ein Particulier, ein Privatmann, der in seinem Privathaus lebte und arbeitete. Dieses französische Wort particulier fügt sich hier so passend ein, weil es über "eigen" hinaus "Teilchen, Partikel", aber auch "genau, umständlich" bedeuten kann: lauter Eigenschaften, für welche die Fotografie bald berühmt wurde.

Daguerre hatte vor der Fotografie das Diorama erfunden, eine Schaubühne, in der riesige halbtransparente Leinwände in langsamem Wechsel von vorne und hinten beleuchtet wurden und so ihren Prospekten eine Tages- und eine Nachtansicht abgewannen.

Daguerre war also ein Entrepreneur, Unternehmer in der Bilder- und Unterhaltungsindustrie. Die staatliche Pension machte ihm zum Privatier mit Anwesen und Park in der Nähe von Paris. Und schließlich der Bürger und Beamte Bayard: Obwohl er nie verriet, worin sein Verfahren bestand, hinderte ihn das nicht, als Sekretär der französischen Gesellschaft für Fotografie die Sache des von ihm miterfundenen Mediums organisatorisch und praktisch zu fördern. Als Vereinsmeier übernahm er eine weitere Rolle, die zum Repertoire einer bürgerlichen Existenz gehört.

Die erste Kamera in Deutschland von Louis Jacques Mandé Daguerre im Deutschen Museum. (Foto: Scherl/SZ Photo)

Die Fotografie ist ein Medium, das Besitz und Relationen anzeigt

Kurz nach der Erstveröffentlichung 1839 rüstete der Optiker und Bildband-Verleger Noël-Paymal Lerebours ein Team von Abenteurern aus, die die Welt auf Daguerreotypien nach Paris zurückbringen sollten. Die Fotografie verließ das Haus ihrer Hausgeburt, um auszuschwärmen und "alles unter der Sonne" abzulichten. Und doch nahm die Fotografie aus ihrem Ursprungsort einen Auftrag mit: Zur Fotografie gehören Eigentum und Standortgebundenheit, sie ist ein Medium, das Besitz und Relationen anzeigt.

Seit dem 18. Jahrhundert sind die Besitzverhältnisse, die Erträge aus Grund und Boden, die Arten ländlicher und städtischer Bodennutzung Angriffspunkte der großen sozialen und ökonomischen Umwälzungen. Im Roman, der anderen epochalen bürgerlichen Kunstform, traktieren die Autoren genau diese Fragen und schreiben die Geschichten von Haus und Hof in immobilen Zeiten neu.

Und in der Fotografie schuf sich der proprietäre und als solcher zutiefst verunsicherte Blick des bürgerlichen Besitzindividualismus ein neues, ein zusätzliches Übungsfeld. Vielleicht könnte man mit Aristoteles von einem Beitrag zur "Oikonomia", zur ästhetischen und gesellschaftlichen "Hauswirtschaft", sprechen. Louis Daguerre fotografiert sowohl persönliches Gebrauchseigentum und Betriebsmittel - die Objekte, die das Stillleben des Münchner Triptychons ausmachen - als auch den Sozialraum des Grundbesitzes, des eigenen und des der anderen.

Fotografie lehrt uns, Mein und Dein zu unterscheiden

Jede Aufnahme ist standortbezogen, sie unterscheidet Hier und Dort. Und so stellt uns Fotografie unablässig die Aufgabe, Mein und Dein und Haben und Nichthaben zu unterscheiden, also Niklas Luhmanns binären Code des Eigentums zu bedienen.

Und sie übt uns ein in die automatische Wahrnehmung von eigenem und fremdem Raum, von privater und öffentlicher Sphäre. So trägt Fotografie die enormen Kommunikationskosten mit, die entstehen, wenn so viele verschiedene Objekte in der Umwelt bestimmten Ansprüchen unterliegen und deswegen geschützt oder frei sind. Sie übt also und stützt, was die Rechtstheorie "everyday morality" nennt, Alltagsmoral. So wird unser Sinn für das Zugehörige und damit das Gehörige trainiert.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp ist ein führender Kenner der Geschichte und Theorie der Fotografie. Er lehrte in Hamburg und ist derzeit Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg.

© SZ vom 19.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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