100 Jahre Russische Revolution:Stimmen von 1917

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In der neunten Folge der SZ-Serie kommt der Soziologe Pitirim Sorokin zu Wort. Vor 100 Jahren erlebte er, wie Leo Trotzki die Massen zum Sturz der Übergangsregierung aufwiegelte - und die Masse sich in einen Mob verwandelte.

Pitirim Sorokin war einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, er schrieb Bücher wie "Die Soziologie der Revolution", "Hunger als Faktor menschlicher Angelegenheiten". Den Juli des Jahres 1917 verbrachte er in der Hauptstadt Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg. Nach der Oktoberrevolution wird der wortgewaltige Antikommunist nur knapp dem Tod entkommen. 1922 darf er ausreisen, erst nach Deutschland, nach Berlin, später in die Vereinigten Staaten, wo er in Harvard das Institut für Soziologie aufbauen und später der American Sociological Association vorstehen wird. Doch im Juli 1917 ist Sorokin, erst 28 Jahre alt, Berater von Alexander Kerenski, dem Chef der Übergangsregierung. In seinem Tagebuch schildert Sorokin die Ereignisse der ersten Julihälfte:

"Der Knall ist passiert. Wir haben ein meuterndes Regiment gesehen, es marschierte über die Liteiny-Brücke, wie haben das nahe Knattern der Gewehrsalven gehört. Die Revolution hatte mal wieder Hunger und verlangte nach menschlichen Opfern. Die Straßen um das Taurische Palais (damals das Parlamentsgebäude - Red.) und seinen großen Hof sind voller Soldaten und Matrosen. Auf einem Auto stand Trotzki, er redete auf die Leute aus Kronstadt ein (eine der Stadt Petrograd vorgelagerte Insel mit einer großen Garnison - Red.):

'Liebe Kameraden, ihr seid der Stolz der russischen Revolution! Ihr seid ihre besten Anhänger und Verteidiger! Eure neue Aufgabe: Die Revolution zu säubern, sie von Feinden zu befreien, die kapitalistische Regierung zu stürzen, die Revolution an ihre Grenzen zu bringen, das Reich des Kommunismus zu erschaffen, die Diktatur des Proletariats und eine Weltrevolution loszutreten. Das große Drama hat begonnen! Der Sieg und ewiger Ruhm rufen uns! Lasst unsere Feinde erzittern, sie werden keine Gnade erfahren, kein Mitleid. Lasst uns unseren ganzen Hass sammeln und sie ein und für allemal vernichten!'

Ein wildes, animalisches Gebrüll war die Antwort auf seine Rede. Aus der Menschenmenge wurde ein dichtes Gedränge. Bolschewistische Einpeitscher riefen dazu auf, die Türen einzubrechen und die Volksvertreter auseinanderzujagen. Mein Kopf zerplatzte vor Aufregung und von der dichten Luft im Raum. Ich trat in den Innenhof der Duma. In der grauen Dämmerung der Julinacht sah ich ein ganzes Meer von Soldaten, Arbeitern, Matrosen. Sobald ich erkannt wurde, hatte man mich auch schon umzingelt. Heiße Fragen und wütende Drohungen prasselten auf mich ein. Ich versuchte, der Menge zu erklären, dass die Sowjets nicht die ganze Macht haben können, dass die bolschewistischen Forderungen unrealistisch sind. Aber ich sprach nicht zu einer Menschenmenge, ich sprach zu einem Monster.

Das Monster war stumpf für jegliche Argumente, irre vor Hass und sinnloser Wut, und rief idiotische Sprüche der Bolschewiken. Ich werde nie die Gesichter des verrückt gewordenen Mobs vergessen, die ihre menschlichen Züge verloren und tierische angenommen hatten. Der Mob brüllte und heulte und schüttelte die Fäuste:

'Die Abgeordneten haben sich an die Kapitalisten verkauft!'

'Verräter! Judas!'

'Volksfeind!'

'Macht ihn kalt!'

Ich brüllte dem Gebrüll entgegen: 'Wird mein Tod euch Grundstücke bringen, wird er eure leeren Mägen füllen?'

Seltsam, aber einige Viecher reagierten auf meine Worte mit Gelächter. So einfach schwankt ein Mob hin und her. Gegen zwei Uhr nachts erreichte ich mein Bett, fiel um und schlief sofort ein."

Aus dem Russischen von Tim Neshitov.

© SZ vom 17.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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