100 Jahre Revolution:Stimmen von 1917

Lesezeit: 4 min

(Foto: SZ)

Briefe und Tagebücher aus Russland (XIII): Mit dem Sturm auf den Winterpalast eroberten die Bolschewiken die Macht. Ein Augenzeuge erinnert sich.

Was schrieben die Russen im Revolutionsjahr 1917 in ihre Tagebücher und Briefe, das ist die Ausgangsfrage dieser Serie. In der Nacht auf den 26. Oktober 1917 ergriffen die Bolschewiki in Russland die Macht. Die Übergangsregierung, die das Land seit der Abdankung von Nikolaus II. im März 1917 regiert hatte, wurde kurz nach zwei Uhr nachts im kleinen Speisesaal des Winterpalastes (heute das Eremitage-Museum in Sankt Petersburg) festgenommen. Einer der verhafteten Minister, Pawel Maljantowitsch (Justiz), beschrieb die Nacht in seinen Erinnerungen, die 1918 erschienen. Er hatte als Anwalt im Zarenreich viele Sozialdemokraten verteidigt. Deswegen wurde er bereits nach einem Tag Haft freigelassen. Unter Stalin wurde er verhaftet und 1940 als Volksverräter erschossen. Hier Auszüge aus jener Nacht im Oktober. SZ

Bis etwa vier Uhr nachmittags war der Winterpalast noch nicht völlig abgeriegelt. Zweimal kam der stellvertretende Finanzminister A. G. Chruschtschow zu uns, und noch jemand, ich glaube W. D. Nabokow (Vater des künftigen Schriftstellers Wladimir Nabokow, juristischer Berater der Übergangsregierung - Red.) Welche militärischen Einheiten standen der Übergangsregierung zur Verfügung? Genaue Informationen gab es nicht. Das ist seltsam, aber so war's: Wir wussten nicht, wer das russische Staatswesen schützte.

Auf den Winterpalast waren die Kanonen des Kreuzers Aurora gerichtet, der hinter der Nikolaj-Brücke lag, und die Kanonen der Peter-und-Paul-Festung. Durch die riesigen Fenster des Palastes strömte das kalte Licht eines grauen, sonnenlosen Tags. In der trockenen Luft sah man deutlich die Stadtsilhouette, im Eckfenster: gleichgültiges, kaltes Wasser. In der grauen Luft lauerte Unruhe. In der großen Mausefalle wanderten, mal für einen Plausch zusammenkommend, einsame, ihrem Schicksal übergebene Menschen. Um uns herum war Leere, auch in uns war Leere, und in ihr wuchs eine gedankenlose, gleichgültige Entschlossenheit.

"Was droht dem Palast, wenn die Aurora schießt?", fragte jemand. "Er wird in einen Trümmerhaufen verwandelt", sagte Admiral Werderewski, wie immer ruhig. Nur seine Wange unterm rechten Auge zuckte. Er schüttelte seine Schultern, rückte seinen Kragen zurecht, steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich weg, um seinen Spaziergang fortzusetzen.

Wie endet das alles? Wie sollen wir uns verhalten? Welche Befehle sollen wir den uns noch schützenden Truppen geben? Dieser Augenblick kommt unbedingt, der Zeitpunkt, an dem man einen kurzen, entschlossenen Befehl geben muss. Nur welchen? Verteidigung bis zum letzten Mann, bis zum letzten Tropfen Blut? Wofür? Wenn diejenigen, die eine Regierung aufgestellt haben, diese nicht verteidigen, braucht man sie überhaupt noch? Und wenn sie nicht mehr nötig ist, überkommen, an wen und wie soll man die Macht übergeben und mit welchem Befehl?

Die Uhr zeigte kurz nach acht. Wir löschten das obere Licht. Nur auf dem Schreibtisch brannte eine elektrische Lampe, durch Zeitungspapier vom Fenster abgeschirmt. Halblicht, Stille, kurze, leise Unterhaltungen. Im Nebenzimmer war es dunkel. Da stand auf dem Tisch neben der Tür das Telefon. Es funktionierte bis zwei Uhr nachts, bis zu unserer Verhaftung.

Im Raum zum Flur stand die Wache. Den Tag über hatte man einzelne Schüsse gehört, nun hörten wir sie öfter, einzeln und in Salven. Uns wurde berichtet, dass unsere Wachen lediglich auf die Schüsse antworteten oder erst dann schossen, wenn Bolschewiki sich dem Palast näherten. Man schoss aber in die Luft. Das reichte erst mal: Die Menge zog sich zurück.

Ich legte mich auf das halbrunde Sofa, stopfte mir meinen Mantel unter den Kopf. Neben mir lag im Sessel General Manikowski, die Beine auf dem weichen Stuhl ausgestreckt. Die Schüsse aus Gewehren und Maschinengewehren fielen immer öfter. Immer wieder hörten wir auch Kanonendonnern. Als es einmal ganz stumpf krachte, anders als sonst, fragte jemand: "Was ist das?" Werderewski sagte: "Das kommt von der Aurora." Sein Gesicht blieb wie immer ruhig.

Die Tür flog auf. Ein Militärschüler rannte herein, Habachtstellung, Hand unter der Mütze, ein aufgeregtes, aber entschlossenes Gesicht: "Was befiehlt die Übergangsregierung! Verteidigen bis zum letzten Mann? Wir sind bereit, wenn die Übergangsregierung befiehlt." Wir schrien alle durcheinander, ohne uns abgesprochen zu haben: "Nein, das ist zwecklos! Das ist doch klar! Kein Blutvergießen! Wir müssen uns ergeben."

Lärm vor unserer Tür. Sie sprang auf, und ein kleines Männlein flog zu uns herein, wie ein Stück Holz von einer Welle hineingespült, hineingetrieben von einer Menschenmenge, die hinter ihm her ins Zimmer überschwappte und es ausfüllte wie Wasser, jede Ecke. Das Männlein trug einen offenen Mantel und auf den rötlichen langen Haaren einen breiten, in den Nacken geschobenen Filzhut. Brille. Kurz gestutzter roter Schnauzer, kleines Bärtchen. Wenn er sprach, schob sich die kurze Oberlippe zur Nase hoch. Farblose Augen, erschöpftes Gesicht.

Aus irgendeinem Grund zogen sein Hemd und sein Kragen meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Ein gestärkter, sehr hoher Doppelkragen stützte sein Kinn. Das weiche Hemd quoll aus der Brustmitte samt Halstuch zum Kragen hinauf. Der Kragen, das Hemd, die Manschetten, die Hände des Männleins, alles war sehr schmutzig.

Das Männlein schrie aufdringlich: "Wo sind hier die Mitglieder der Übergangsregierung?" Wir saßen am runden Tisch. Deren Wachen hatten uns bereits umstellt. "Die Übergangsregierung ist hier", sagte Konowalow (Handelsminister - Red.) und blieb sitzen. "Sie wünschen?" Das Männlein sprach: "Ich teile Ihnen allen mit, allen Mitgliedern der Übergangsregierung, dass Sie verhaftet sind. Ich bin der Vorsitzende des Militärrevolutionären Komitees Antonow."

Ein kleinwüchsiger Matrose schrie: "Lasst uns sie alle abstechen, die Hurensöhne!" Es folgte eine komplizierte, undruckbare Schimpftirade. "Warum Zeit auf die verschwenden! Die haben genug von unserem Blut getrunken!" Der Matrose rammte sein Gewehr in den Boden, ich weiß noch, ein Gewehr ohne Bajonett, und sah sich um. Antonow hob den Kopf und schrie: "Kameraden, Ruhe! Alle Mitglieder der Übergangsregierung sind verhaftet, sie werden in die Peter-und-Paul-Festung gebracht. Ich erlaube hier keine willkürliche Gewalt."

Über die Millionnaja-Straße liefen wir noch schneller. Eine Menge Soldaten mit Gewehren begleitete uns. Sie lichtete sich und beruhigte sich etwas, obwohl das Geschimpfe und Geschubse nicht aufhörte. Vor der Brücke kam uns eine neue Menschenmenge entgegen, und es wurde klar, dass die Stimmung zu kippen drohte. Es wurde für uns knapp. "Ins Wasser mit ihnen, ins Wasser! Abstechen und ins Wasser!"

Unsere Wachen sind aufgeregt, ihre Antworten schüchtern und sogar erschrocken. Der Mob wird immer frecher. Die Wachen beschleunigen, wir laufen immer schneller, erreichen die Mitte der Brücke. Und da, auf einmal! Jemand schießt aus Maschinengewehren auf uns. Die Wachen und der Mob werfen sich auf den Boden. Wir auch. Jemand schreit: "Kameraden! Kameraden! Aufhören! Wir sind's!"

Es stellt sich heraus: Auf die Brücke war ein gepanzerter Wagen vorgefahren und hatte auf uns geschossen, einfach so. Aber dieser Zufall rettete uns. Die Soldaten liefen zum Panzerwagen, und es ging los mit den gegenseitigen Beschimpfungen. Das lenkte die Aufmerksamkeit von uns ab. Wir überquerten schnell die Troizki-Brücke und erreichten den Festungsgraben.

Aus dem Russischen von Tim Neshitov

© SZ vom 27.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: