Weitere Briefe zu Corona:Gesellschaftliche Vorerkrankung

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Die Pandemie zeige, in welchen Bereichen Politik und Gesellschaft in Deutschland und der EU kranken.

Gesellschaftliche Vorerkrankung

Zu " Soft und sicher" vom 23. Juli sowie zu " Vor allem ein großes Unglück" vom 29. Juni: Vielleicht ist es ja noch zu früh für die heutige Philosophie, neue Erkenntnisse vor dem Hintergrund der Corona-Krise auszumachen, zu bewerten und in einen sinnvollen und hilfreichen Kontext zu stellen. Umso wichtiger bleiben die "alten" Philosophen, die auch zur aktuellen Krise so viel zu sagen hatten. Ohnehin erwarte ich mir mehr gehaltvolle Beobachtungen und Fingerzeige von den Soziologen über den Habitus unserer beständig zum zivilen High End tendierenden Gesellschaft.

Eine überaus relevante und leider gültige Diagnose hat die SZ-Autorin Jana Anzlinger vor Kurzem gestellt. Dass nämlich die Auswirkungen von Corona deshalb so verheerend sind, weil das Virus auf massive gesellschaftliche Vorerkrankungen getroffen ist. Die prekäre Lage im Gesundheits- und Pflegewesen muss dabei nicht nur sinnbildlich als Beispiel genannt werden. Und doch, kaum sind Angst und Not ob Corona ein wenig kleiner und alltäglicher geworden, schon legt sich wieder die alte miefige Ignoranz über das Land und das gerade erst ausgerufene Heldentum. Jedenfalls lassen die politischen Befunde über die erkannte Systemrelevanz von Krankenschwestern und Pflegern mitnichten vermuten, dass sich an den dürftigen Konditionen ihrer Tätigkeiten etwas zum nachhaltig Besseren entwickelt. Diese Vorerkrankung etwa muss unbedingt behandelt werden; und für diese substanzielle, alles andere als softe Erkenntnis sind philosophische Ratschläge sicher sehr verzichtbar.

Matthias Bartsch, Lichtenau

Supranationale Erkenntnisse

Zu " In die Krise gestolpert" vom 15. Juli: In der EU gilt das Prinzip der Subsidiarität. Es wird also primär auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene gehandelt, dann erst auf supranationaler. Und hier wurden in Deutschland von Januar 2020 bis zum Lockdown im März auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene eklatante Fehler begangen. Von der Maskenbevorratung über den persönlichen Kugelschreiber als Infektionsprophylaxe bei den bayerischen Kommunalwahlen bis hin zu Starkbierfesten. In der Summe können wir in Deutschland nur sagen: Glück gehabt. Menschen machen Fehler, das liegt in unserer Natur. Doch dafür muss Verantwortung übernommen werden, und aus Fehlern müssen wir lernen, in Deutschland, in Italien, in Frankreich, in jedem Land. Dann erst können Schlüsse für notwendige Veränderungen auf supranationaler Ebene gezogen werden.

Dr. med. Thomas Lukowski, München

Fehler im System

Zu " So ein Rotz" vom 22. Juli sowie zu " Der Rotznasen-Eklat" vom 12. Juli: Viele Eltern haben ein schizophrenes Verhältnis zu uns Erzieherinnen. Sie urteilen zum Thema Kita quasi einstimmig und überaus dominant. Es ist doch seltsam, wie man uns immer wieder vergisst: "Während manche gemütlich von zu Hause aus im Home-Office die Ausgangsbeschränkungen aussitzen konnten, mussten andere trotzdem ran und raus: Müllleute, Lokführerinnen, Pflegekräfte. Und wir in der Notbetreuung. Aber hier ist, wie in den meisten anderen Artikeln zum Thema Corona und Kita, die Rede hauptsächlich von den Eltern. Wir haben zwar keine Lobby, aber mehrere Stunden am Tag viele Kinder. Wer macht diesen Job gern, in dem man sich einer starken Virenbelastung von schnupfenden und hustenden Kindern aussetzt und gleichzeitig Geborgenheit, Nähe, Verständnis, Erziehung und Bildung bereitstellen soll, wenn öffentlich die Perspektive von Kita-Personal nicht der Erwähnung wert ist? Die meisten Eltern scheren sich auch ohne Corona schon herzlich wenig um uns. Sie brechen zusammen, wenn die Kitas zu sind; aber anstatt das als Anlass zu nehmen, uns wertzuschätzen und den Fehler im System zu erkennen, werden Entscheidungen kritisiert, die uns schützen. Sollten wir aber an Corona erkranken oder irgendwann doch mal streiken, wohin dann wieder mit euren Kindern?

Susanne Hanke, Berlin

© SZ vom 06.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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