SZ Werkstatt:Welches Buch hat Sie besonders beeindruckt?

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Andrian Kreye erklärt, welches Werk seit Jahrzehnten auf seinen Schreibtischen liegt.

Journalisten haben sehr viel mit Literatur zu tun. Welches Buch hat Sie besonders beeindruckt?

Heinrich Giebhardt, Gießen

Auf meinen Schreibtischen der vergangenen Jahrzehnte lag immer eine Ausgabe von Joseph Mitchells "Up in the Old Hotel", das ich so oft gelesen habe wie kaum ein anderes Buch. Streng genommen ist das eine Sammlung von Lokalreportagen, die Mitchell zwischen den späten Dreißiger- und frühen Achtzigerjahren für die Zeitschrift New Yorker verfasste. Ich lebte selbst lange dort, erst auf der Lower Eastside, später in Brooklyn, immer in Gegenden, durch die er selbst all die Jahrzehnte gestreift war. Keine besonders feinen Gegenden, aber gerade deswegen so aufregend für einen Journalisten.

Was mich an Mitchells Texten besonders reizte, war, dass er einem über Alltagsbeobachtungen mit der literarischen Kraft und Klarheit seiner Sprache erst die Stadt und dann die Welt erklären konnte. In der Geschichte "All You Can Hold For Five Bucks" ("Essen, bis Sie platzen - für nur fünf Dollar") von 1939 erzählt er beispielsweise, wie der Zorn auf die Erweiterungen der Speisekarten der New York Steak Dinners die Widerstände gegen die Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen vorwegnahmen. Wie der Einzug der "Frucht-Cocktails und raffinierten Salate" die Welt der Rinderlendenstücke durcheinanderbrachte, in der echte Männer ihr Fleisch ganz ohne Beilagen nur mit großen Gläsern Bier dazu vertilgten.

Es gibt viele solcher Geschichten in Mitchells Büchern. Über Muschelfischer, Stahlbauarbeiter vom Stamm der Mohawks, Abbruchunternehmer, Barbesitzer, Calypso-Sänger oder die Ratten am Hafen von Manhattan, den es damals noch gab. Immer lesen sie sich wie literarische Ausflüge in eine Stadt, die zu Mitchells Zeiten noch der Nabel der freien Welt und Fluchtpunkt vieler Träume war.

Solche Bücher sind einem als Schreiber selten Vorbild, eher Begleiter. Man liest sie wieder und wieder, weil einen der Ton und der Rhythmus begeistern. In Deutschland hatte ich die Bücher der Stars des New Journalism der Sechzigerjahre wie Tom Wolfe, Joan Didion und Hunter S. Thompson entdeckt. Mitchell war dann so etwas wie der Quell dieser reißenden Strömung.

Als ich vor 14 Jahren von New York wieder zurück nach München zog, fand "Up in the Old Hotel" auf dem neuen Schreibtisch in der Sendlinger Straße, dann in Berg am Laim seinen Platz. Vor einigen Jahren dann begann der Diaphanes-Verlag, Mitchells Texte auf Deutsch herauszubringen. Vier Bände sind es geworden. Weil es Sven Koch und Andrea Stumpf geschafft haben, ein deutsches Äquivalent für Mitchells Sprache zu finden, habe ich sie alle noch einmal gelesen. eye

(Foto: N/A)
© SZ vom 03.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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