Solidarität:Kreativ und bescheiden

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Dem Vorwurf einer provinziellen Pandemie-Politik Deutschlands widersprechen einige Leser. Dazu, ob und wie konkret die Bundesregierung anderen härter betroffenen Ländern helfen kann, gibt es unterschiedliche Ansichten. Vorsicht und Kreativität seien gefragt.

Zu " Kant & Co." vom 5. Juni: Gut, dass Frau Augstein den Finger in die Wunde legt, während wir uns noch kollektiv auf die Schultern klopfen, weil wir es geschafft haben, relativ glimpflich durch die Krise zu kommen - Markus Söder sprach sogar von einem "Vorsprung", den es nicht zu verspielen gälte - und gleichzeitig verdrängen, dass wir durch unser Tun in anderen Weltgegenden voraussehbare Katastrophen mitzuverantworten haben. Never change a running system!

Nein, Solidarität mit den Schwachen der Welt war wohl nie der Hauptantrieb für die nach schlimmen Versäumnissen möglicherweise in Panik gewählte, später aber bewusst beibehaltene Strategie. Auch nicht für unser individuelles Einhalten der "Regeln". Angst hat zumindest eine große Rolle gespielt. Angst vor einer möglicherweise schlimmen Erkrankung, später, als ein geringeres Risiko offensichtlich wurde, die Angst vor Denunziation und deftigem Bußgeld oder auch nur vor bösen Blicken. Und nicht einmal auf das Shoppen mussten wir - von freiberuflichen Musikern, die trotz staatlicher Hilfszusagen finanziell vor dem Nichts stehen und vielen anderen mal abgesehen - verzichten, um "Leben zu retten". Sklaventreiber Amazon dankt.

Echte Solidarität gibt es nur freiwillig. Traurig, dass wieder ein wichtiges Wort in großem Maßstab - sozusagen staatlich - missbraucht wurde. Wer die DDR noch erlebt hat, fühlt sich erinnert. Dass wir aber auch zu echter Solidarität fähig sind, haben wir zum Beispiel während der letzten Flutkatastrophe bewiesen.

Ferenc Kölcze, München

Als Ökonom und selbst zur Risikogruppe Gehöriger beeindruckt mich im Kommentar von Frau Augstein, dass sie die Frage aufgreift, wer von der Pandemie besonders gefährdet ist, und wer die Kosten tragen muss. Bemerkenswert ist, wie aus der Perspektive der Solidarität die Verantwortung für das individuelle Lebensrisiko Gesundheit angesichts der Corona-Pandemie auf die Allgemeinheit verlagert wurde. Selbstverständlich hat der Staat hinreichende Kapazitäten zur Heilung der Kranken und wirksame Maßnahmen (Abstandsregelungen, Verbot von Menschenansammlungen, Maskenpflicht, Tracing-App etc.) zur Eindämmung der Pandemie bereitzustellen beziehungsweise anzuordnen. Aber muss er das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben über eine kurze Bremse zur Orientierung hinaus nachhaltig herunterfahren, erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgekosten der Allgemeinheit auferlegen? Die Alternative wäre gewesen, die sehr Gefährdeten weit nachhaltiger auf ihre Verantwortung für sich selbst hinzuweisen, über Hilfen (Betreuung, Versorgung, Unterhaltung etc.) für den Erhalt von deren Lebensqualität nachzudenken, die Alten- und Pflegeheime nachhaltig zu sichern.

Natürlich gilt der Einwand, dass die Politik unter dem Einfluss vieler diffuser Ratgeber und dem Druck durch die Medien in der Gefahr suboptimaler Lösungen steht. Man schickt wieder alle Kinder möglichst viele Tage in die Schule und lässt sie dort von den weniger gefährdeten Lehrern mit den gebotenen Vorsichtsmaßnahmen unterrichten. An den anderen Tagen können sich auch gefährdete Lehrkräfte weiterhin im Tele-Lehren bewähren. Und es gibt sicherlich für viele andere Bereiche ähnliche Ansätze. Solidarität ist kein Ersatz für Kreativität.

Dr. Ulrich Cichy, Dinslaken

Die Deutschen benennen angeblich ihren Gehorsam in Solidarität um, weil sie angesichts ihrer Geschichte besser dastehen würden. Hier den Holocaust heranzuziehen, wenn es um die Befolgung "amtlicher Vorgaben" geht, und einen Zusammenhang mit unserer heutigen Situation herzustellen, finde ich obszön. Wenn dann noch Kant herbeizitiert wird, möchte man Frau Augstein mit Hilfe Kleists zurufen: "In Eurem Kopf liegt Wissenschaft und Irrtum geknetet, innig, wie ein Teig zusammen."

Und dass das "provinzielle" Deutschland, das doch bis jetzt ganz anständig durch die Corona-Krise navigieren durfte, die Millionen Opfer auf der Welt vergessen hätte und "die Berichterstattung auf die Heimat fixiert" sei, stimmt einfach nicht. Hört Frau Augstein nie Deutschlandfunk oder liest sie die SZ nicht regelmäßig? Ich könnte weiter aufzählen, belasse es dabei, frage mich aber, warum die Unsicherheit, das Unbehagen, die Ängste, die wohl auch Frau Augstein ergriffen haben, sie zu derlei hochtrabenden moralischen Beurteilungen verführt haben.

Skepsis, Bescheidenheit und Vorsicht scheinen mir am hilfreichsten im Umgang mit dieser uns allen unbekannten Situation zu sein. Um vielen unsäglich schlimmer Betroffenen der Welt unsere Solidarität zu zeigen, sollten wir "Ärzten ohne Grenzen" spenden.

Ingrid Israel-Grieser, Freiburg

© SZ vom 16.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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