Schule im Ausnahmezustand:Hartes Ringen um den richtigen Weg

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Junge Menschen, die vor einem Abschluss stehen, müssen derzeit alleine büffeln, mehr oder weniger unterstützt, digital von Lehrern, daheim von Eltern. Das führt zu Ungerechtigkeiten, finden Leser. Ist dies in Notzeiten hinzunehmen?

Zu " Eltern sind keine Ersatzlehrer" vom 28./29. März, " Der Sommer ihres Lebens" vom 27. März sowie zu " Das Abitur findet statt" und " Absurde Idee" vom 26. März:

Auf zentrale Prüfungen umstellen

Man braucht kein großer Hellseher zu sein, um vorherzusagen, dass die Abiturprüfungen nicht wie geplant stattfinden werden. Zumal die Bedingungen noch ungleicher sind als in normalen Zeiten. Es wäre doch eine wunderbare Gelegenheit, jetzt auf zentrale Zulassungsprüfungen an den Universitäten umzustellen, um endlich faire und gerechte Prüfungsverhältnisse zu schaffen. Die derzeitigen Prüfungsverhältnisse in den einzelnen Bundesländern sind meines Erachtens ein Betrug an jungen Menschen und schaffen höchst ungerechte Lebenschancen. Gleichzeitig könnte man wenigstens landesweit wieder gleiche Aufnahmeprüfungen für die weiterführenden Schulen schaffen, auch um den Druck von den Grundschulen zu nehmen. So könnte für unser Schulsystem aus der Not eine Tugend werden.

Hannes Schober, Salzweg

Abiturienten die Wahl lassen

In der Corona-Krise sind die Abiturprüfungstermine ins Schwanken gekommen. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien entscheidet kurzerhand, das Abitur ausfallen zu lassen, und revidiert ihre Aussage nach scharfer Kritik. Kurz darauf beschließt die Kultusministerkonferenz einstimmig das Stattfinden der Abiturprüfungen, und Michael Piazolo, Bayerns Kultusminister, ist sich, genau wie alle anderen Verantwortlichen, sicher: "Ziel ist wirklich, faire Bedingungen für unsere Abiturienten zu schaffen, das ist das oberste Ziel ..." Faire Bedingungen stehen den Abiturienten des Jahrgangs 2019/2020 zu, ihnen darf aufgrund der außergewöhnlichen Situation kein Nachteil entstehen, darüber sind sich alle einig.

Doch wer ist überhaupt in der Lage zu bewerten, wann für uns Schülerinnen und Schüler der geringste Nachteil entsteht? Wer entscheidet, wann die Maßnahme fair ist und wann nicht? Nur wir Schüler selbst können eine solche Entscheidung treffen. Unter den aktuellen Umständen ist es nicht möglich, eine Kollektivmaßnahme zu beschließen, ohne dabei Einzelne zu benachteiligen. Der Unterricht ist ausgefallen und wird auch weiterhin ausfallen - wie lange noch, kann niemand abschätzen. Das ist Fakt, und ja, eine absolute Ausnahmesituation. Durch Homeschooling, welches, um funktionieren zu können, eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur, die richtigen Materialien und einheitliche Anwendungsstrategien voraussetzt, entsteht zudem eine klare Bildungsungerechtigkeit. Schließlich verfügen nicht alle Schüler über die gleichen technischen Geräte, eine intakte Internetverbindung und Unterstützung durch ihre Eltern. Ebenfalls nicht unerheblich ist, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht für solche Situationen ausgebildet wurden und der Situation unvorbereitet gegenüberstehen. Es bedarf nun Ausnahmeregelungen, um uns einen fairen Abschluss zu ermöglichen. Und: Wir alle müssen selbst entscheiden dürfen, ob wir uns mit unseren bisherigen Leistungen zufriedengeben und ein "Durchschnittsabitur" für uns infrage kommt oder ob wir in die Prüfungen gehen, um unsere Leistungen verbessern zu können und damit zum Beispiel einen bestimmten Numerus clausus zu erreichen. Eine weitere Verschiebung der Abiturtermine ist ob der Planungsunsicherheit inakzeptabel. Es ist an der Zeit, Schülern die Entscheidung selbst zu überlassen. Zu oft wurde über unsere Köpfe hinweg entschieden!

Lucas Mühlhans, Abiturschüler, Benediktbeu ern

Epidemiologisches Experiment

Detlef Esslingers Kommentar zu Schleswig-Holsteins Überlegung, wegen der Corona-Epidemie die diesjährigen Abiturprüfungen abzusagen, macht mich gerade als Lehrer wütend. Der Autor arbeitet sich an Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien ab, deren Alleingang "absurd" gewesen sei. Für mich hat Frau Prien als bisher einzige deutsche Bildungsministerin den Stellenwert der Fürsorgepflicht der Länder und Schulleitungen für Schülerschaft und Kollegien erkannt.

Wir befinden uns inmitten einer Epidemie. Ansteckungs- und Sterbezahlen werden noch eine geraume Zeit ansteigen, vielleicht gibt es sogar mehrere Infektionswellen. In Deutschland wurden daher sinnvollerweise Kontaktverbote im öffentlichen Raum erlassen. Gleichzeitig aber sollen sich in deutschen Schulen (keine öffentlichen Räume?) Menschen versammeln, um Abiturklausuren zu schreiben beziehungsweise sie zu beaufsichtigen, um mündliche Prüfungen abzulegen oder abzunehmen.

In Hessen protestieren bereits Kollegien dagegen, dass Supermarktkassiererinnen besser vor Ansteckung geschützt werden als Lehrkräfte. Für mich ist Frau Prien daher die einzige Politikerin, die offen gesagt hat, was Abiturprüfungen 2020 sein werden: ein zweifelhaftes epidemiologisches Experiment auf dem Rücken von Schülern, Lehrern und letztlich der Gesamtgesellschaft.

Robert Peters-Gehrke, Aachen

Ausnahme betrifft alle Prüflinge

Ich finde auf Seite Drei einen riesigen Artikel übers Abitur in Corona-Zeiten. Wer hat eigentlich auch mal Mitgefühl mit den vielen Qualiprüflingen, dem mittleren Schulabschluss, Realschulabschluss, Fachabitur und den Prüfungen der Auszubildenden? Davon redet fast niemand. Auch diese jungen Menschen sind betroffen, haben keine Perspektive, wie es weitergeht. Auch diese Prüflinge haben das Recht, dass man überlegt, wie ihnen geholfen werden kann.

Angela Mazur-Schaar, Herrsching

Aufs Wesentliche konzentrieren

Verlorener Abi-Sommer, ausgefallene Abi-Bälle, Kleider, die wir vielleicht umsonst gekauft haben, Abi-Abschlussfahrten, die wir vielleicht nie antreten dürfen, ganz zu schweigen von dem Partyurlaub auf einer Insel, den ich mit Gleichgesinnten antreten wollte und der jetzt so nicht stattfinden kann. Ich frage mich allen Ernstes, ob diese Gesellschaft noch zu retten ist! Der Kabarettist Rainald Grebe drückt das treffend mit dem Satz: "70 Jahre Frieden sind zu viel." Viele der Menschen, die unseren Alltag gerade am Laufen halten, haben gar kein Abitur. Und einige, deren Kinder gerade Abitur machen, sind sogar froh, dass sie sich dem Abi-Wahnsinn, den sie sich gar nicht leisten können, entziehen können. Ich bin Mutter von drei Kindern, einer meiner Söhne bereitet sich gerade auf sein Abitur vor, na und?

Die Sorge, welches Komma nach der Eins man schafft, um das Wettrennen um die bewährten Studienplätze zu gewinnen, sollte uns nicht dazu bringen zu überlegen, wie wir das Abitur im genau richtigen Moment der Vorbereitung schreiben können, sondern eher, den Sinn eines Numerus clausus zu hinterfragen. Für mich stellt sich die Frage, welchen Nutzen Wissen hat, das man anscheinend schon vier Wochen später nicht mehr abrufen kann.

Karin Ziegler, Baden-Baden

Zeit für Innovationen nutzen

Die Corona-Krise erzwingt eine Isolation, die gewohnte Praktiken in Schule und Lernen verändert, aber auch zu neuen Wegen befreien kann. Über viele Jahre tat sich das deutsche Schulwesen schwer, die Möglichkeiten der Digitalisierung unserer Lebenswelt systematisch zu nutzen. Nun führt die Schließung der Schulen auf unbestimmte Zeit zu einem bisher ungeahnten Innovationsschub. Als Großvater von zehn schulpflichtigen Enkelkindern in drei verschiedenen Bundesländern bin ich überrascht zu sehen, mit welcher didaktischen Kreativität und methodischen Vielfalt Lehrerinnen und Lehrer versuchen, ihren Schülern Lernmöglichkeiten zu eröffnen und den Kontakt zu ihnen zu erhalten, um deren Lernen zu unterstützen.

Das Internet gewinnt dabei eine Qualität als Werkzeug, welches Menschen verbindet, die es unter seiner Kommerzialisierung zu verlieren drohte. Befreit vom engen Korsett rechtlicher Vorgaben des Unterrichts, beschreiten viele Lehrer neue Wege und definieren ihre Rolle neu. Sie denken und planen Lernwege didaktisch und methodisch wie bisher, nutzen nun verstärkt Materialien aus den elektronischen Medien und von Rundfunkanstalten, um in Themen einzuführen, Kenntnisse und Fähigkeiten zu entwickeln und zu vertiefen. Einzelförderung und Betreuung ist nun über Videotelefonie möglich. Leistungsdruck und -überprüfung treten hinter Strategien der Verführung zum Lernen zurück. Der Selektionsagent darf sich zum Lernbegleiter wandeln.

Ich hoffe, möglichst viele Lehrer überwinden ihre Furcht vor diesen Freiheiten und machen sich auf den Weg, der Schule zum Besseren verändern kann. Ich hoffe auch, dass die Kultusverwaltungen gelungene Beispiele identifizieren und zur Orientierung in Aus- und Fortbildung allen Lehrern zur Verfügung stellen. Der Handlungsbedarf ist dringend. Denn leider gibt es auch Entwicklungen, die Eltern und deren Kinder überfordern und absehbar auf die Barrikaden treiben.

Walter Wicke, Studiendirektor a.D., Weilburg/Lahn

Lernqualität geht verloren

Der aufgrund der Corona-Krise mit so viel Euphorie begleitete digitale Unterricht - hinter dem meines Wissens wenige private Unternehmen mit großen Gewinnen stehen - beinhaltet neben Chancen auch eine Gefahr: Der Wert des Schüler-Lehrer-Gesprächs in der Gruppe mit Fragen, Gesten, Mimik und schrittweisen Überlegungen, was gerade in den geisteswissenschaftlichen und sozialkundlichen Fächern unverzichtbar ist, wird in den Hintergrund gedrängt; und zwar, so ist zu befürchten, auch für die Zeit nach der Corona-Krise. Miteinander um Antworten auf philosophische, ethische oder politische Fragen zu ringen, geht am Bildschirm bei Weitem nicht so gut wie im direkten Kontakt von Mensch zu Mensch. Wir Menschen lernen am besten mit Kopf und Herz und Hand. Allerdings: Ein Lehrer, der durch eine Maschine ersetzt werden kann, sollte ersetzt werden.

Peter Wonka, Marktoberdorf

© SZ vom 31.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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