Rücktrittsangebot von Kardinal Marx:Ein Beben der ganzen Amtskirche

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Es geht nicht nur um den Missbrauchsskandal, sondern um grundlegende Erneuerung. Manche vergleichen die Situation mit der Reformationszeit.

Papst Franziskus hat das Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx abgelehnt - die Diskussion um den Kurs der katholischen Amtskirche bleibt. (Foto: Imago)

"Am toten Punkt" und Leitartikel "Die fremde Kirche" vom 5./6. Juni:

Auslaufmodell

Kardinal Marx geht sicher nicht wegen seiner Versäumnisse beim Missbrauchsskandal. Seine Einsicht, dass sämtliche Reformansätze der deutschen Katholiken im Vatikan chancenlos sind, mag eine Rolle spielen. Hinzu kommen aber auch Glaubenszweifel, die Marx schon früher eingeräumt hat und die heute vor allem von jungen Kirchenmitgliedern weithin geteilt werden: Wenn unsere Sonne samt Planeten im Vergleich zum Universum kleiner ist als ein Sandkorn im Vergleich zur gesamten Wüste Sahara, kann der Mensch keine "Krone der Schöpfung" sein. Die Vorstellung eines Gottes, dem das Wohlergehen von uns winzigen Mikroben wichtig ist, entspringt zu offensichtlich einem allzumenschlichen Wunschdenken, als dass ein halbwegs aufgeklärter Mensch das noch glauben kann. Daher sind die Kirchen in einer offenen Gesellschaft auch ohne Skandale langfristig ein Auslaufmodell.

Gerhard Rampp, Augsburg

Machtgierige Männer

Vom "toten Punkt" spricht Kardinal Marx, als er seinen Rücktritt anbietet - damit trifft er das Hauptproblem der gegenwärtigen Kirchenmisere - und, was dazu kommt, er löst Debatte und Forderungen nach dem Rücktritt weiterer Bischöfe und Kardinäle aus. Müssen diese Rücktritte sein? Geht es jetzt wirklich darum, dass Bischöfe und immer mehr Bischöfe, und dann auch Kardinäle und Päpste zurücktreten? Und in der Folge neue machtgierige Männer auf die frei werdenden Plätze springen? Nein, es geht vielmehr darum, dass die männlichen Machtinhaber dieser alteingefahrenen, selbstherrlichen, ichbezogenen, männerdominierten, beratungsresistenten, Kritik ignorierenden, frauenverachtenden, Kinder missbrauchenden, sexualgestörten, Homophobie leugnenden, empathielosen römisch-katholischen Kirche endlich begreifen, dass sie nicht die Herrscher der Welt und des Universums und nicht die Schlüsselinhaber zum Himmel sind, sondern ganz einfache Menschen - mit der Pflicht, für die Menschen und ihre Sorgen und Nöte da zu sein. Und nicht dafür, Menschen zu unterdrücken und zu quälen.

Dr. Gisela Forster, Berg

Unwahr und unfrei

Die pädokriminellen Straftaten und deren flächendeckende, systematische Vertuschung liegen wie eine nasse Decke über der katholischen Kirche. Wenn die Päpste, die Kardinäle und die Bischöfe ehrlich zu sich selber wären, dann müssten sie zugeben, dass sie feige, bequem, macht- und karrierebesessen waren. Dass sie sich schwach, duckmäuserisch, überangepasst, konformistisch, opportunistisch und selbstverliebt verhalten haben.

Sie müssten zugeben, dass sie an das, was sie predigen ("die Wahrheit wird euch frei machen": Johannes-Evangelium) selbst nicht glauben. Aber das würde ja bedeuten, dass sie sich selbst mit Abscheu betrachten müssten - als Harlekine, die in seltsamen Gewändern und viel Pomp das Publikum zum Narren halten durch ein Spiel mit Gut und Böse, mit Recht und Unrecht, mit Himmel und Hölle. Und sie müssten erkennen, dass der Preis, den sie gezahlt haben (siehe Uta Ranke-Heinemanns Buchtitel "Eunuchen für das Himmelreich") viel zu hoch war.

Johannes Fasel, Eibelstadt

Zeit für zweite Reformation

Nicht "die Kirche", sondern die römisch-katholische Kirche ist an einem "toten Punkt", wie Kardinal Marx es formuliert. Wenn daraus wieder ein Lebensquell werden soll, dann nicht durch Rücktritte von Bischöfen. Vielmehr muss die katholische Lehre von Kirche und Amt im Kern revidiert werden. Die Kirche ist keine Heilsanstalt, keine Stellvertreterin Christi auf Erden. Sie ist allein die um Gottes Wort, um Brot und Wein und die Taufe versammelte Schar von Gläubigen. Sie unterliegt der Kritik und ist "semper reformanda", stets reformbedürftig. Und alle Getauften, Männer wie Frauen, beteiligt Christus an seinem priesterlichen Amt. Wer konkret für welchen Dienst beauftragt wird, das regelt sich geschwisterlich und demokratisch. Aber klingt das nicht alles sehr nach Martin Luther? Eben. Die katholische Kirche ist seit dem Mittelalter der Chance zu einer zweiten Reformation noch nie so nahe gewesen wie heute. Aber ob diese Herausforderung der päpstlichen Weltkirche noch einmal von Deutschland ausgehen könnte? Der bisherige Verlauf des "synodalen Wegs" macht skeptisch.

Hans Dieter Osenberg, Saarbrücken

Rom will keine Reformen

Das Rücktrittsangebot von Kardinal Marx wirft einige Fragen auf. Was waren die wirklichen Beweggründe? Warum wirft Kardinal Marx hin, obwohl er weiß, wie wichtig er für den selbst initiierten synodalen Weg ist. Wie so oft in der katholischen Kirche werden die Gläubigen mit Halbwahrheiten versorgt. Und ebenso die Laien, die große Hoffnungen mit Reformvorhaben hatten, die die Kirche nicht als verkrustete Gemeinschaft sehen, jedoch wissen, wie schwierig der Spagat einer Kirche ist, die mit einem Bein im Mittelalter steht und jetzt händeringend den Versuch startet, im 21. Jahrhundert anzukommen. Die katholische Kirche gibt sich äußerlich modern, lässt jedoch, von Rom geführt, keine Reformen zu. Kardinal Marx verkündigte die frohe Botschaft des Evangeliums als ein Zeichen der Hoffnung - es scheint, als habe Marx jede Hoffnung fahren lassen, denn er sieht wenig bis kaum Chancen, dass in der Kirche eine ehrliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals stattfindet. Dies ist bitter für die Betroffenen und traurig für die Laien.

Markus Kröner, Nürnberg

Zeit für einen neuen Luther

Als Martin Luther mit der katholischen Kirche am "toten Punkt" war, trat er aus ihr aus - und heiratete als ehemaliger Mönch eine ehemalige Nonne. Ein deutliches Zeichen auch gegen den Zölibat. Warum tut es ihm Reinhard Marx nicht gleich? Annähernd wenigstens? Denn, was hilft es, wenn er Papst Franziskus seinen Rücktritt anbietet oder eine Stiftung für kirchliche Missbrauchsopfer gründet, weiterhin aber in den Verhältnissen lebt, welche den Missbrauch hervorgerufen haben? Zölibatär in einem Palais, dessen Millionen Euro teure Renovierung vor allem wir Steuerzahlerinnen und -zahler finanzierten? Besoldet mit B 10? Was bleibt da nach dem ausklingenden Medienhype? Die gleiche katholische Kirche wie zuvor? Mit einem liberalen Bischof weniger? Aber mit vielen (erz-)konservativen, welche sich über Herrn Marx' möglichen Rücktritt freuten, unter Umständen sogar jubelten? Weil sie noch ungehinderter das durchsetzen können, um das es ihnen eigentlich geht: Ihre Macht, die nicht aus ihrer Persönlichkeit kommt, sondern von einem Gott, den sie benötigen, um ihre Männerherrschaft gegenüber Frauen zu legitimieren - vor denen sie sich fürchten, weil sie wissen, dass sie sie alt aussehen lassen, wenn kirchliche Ämter nach Fähigkeit besetzt werden. Wir Christen benötigen einen neuen, mutigen Luther. Nicht nur ein Rücktrittsangebot.

Josef Gegenfurtner, Schwabmünchen

© SZ vom 12.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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