Regierungswechsel in den USA:Zwischen Hass und Hoffnung

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Der neue Präsident hat erste Akzente gesetzt. Jetzt komme es darauf an, dass Joe Biden das Land auch einen kann, auch die Anhänger der Republikaner mitnimmt, schreiben Leser. Zur Debatte steht auch eine Reform des Wahlsystems.

SZ-Zeichnung: Denis Metz (Foto: N/A)

Zu " Die Demokratie hat gesiegt" vom 21. Januar, " Die Trump-Lektion" vom 20. Januar, " Ein wahres Gesicht" vom 9./10. Januar und " Nach Trump" vom 8. Januar:

Mehr Glücksspiel als Wahl

Auf den ersten Blick erscheint das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in den USA eindeutig. Joe Biden erhielt landesweit sieben Millionen Wählerstimmen mehr als Donald Trump. Und auch bei der Anzahl der Wahlmänner und -frauen liegt Biden mit 306 Wahlleuten deutlich vor Trump, der auf nur 232 Wahlleute kommt. Ein zweiter Blick jedoch zeigt, wie knapp der Ausgang der Wahl in Wirklichkeit war. In den drei Bundesstaaten Arizona, Georgia und Wisconsin beträgt der Vorsprung von Biden auf Trump gerade 45 000 Stimmen. Ohne die 37 Wahlleute dieser drei Staaten hätte Biden die Wahl verloren. Nicht die sieben Millionen Stimmen, sondern die Haaresbreite von 45 000 Stimmen entschied letztlich über Sieg oder Niederlage!

Die Zahlen belegen, wie antiquiert das Wahlrecht ist, das den Ablauf der Wahl des US-Präsidenten regelt. Das Prozedere, nach dem das immer noch mächtigste Amt der Welt vergeben wird, gleicht mehr einem Glücksspiel als einer fairen Wahl. Die Ereignisse der vergangenen Wochen belegen aber auch die zentrale Rolle des Wahlrechts für das Funktionieren einer Demokratie. Ein Wahlrecht, durch das sieben Millionen Wählerstimmen für irrelevant erklärt werden, diskreditiert das Wahlergebnis und schafft Raum für Verschwörungstheorien und Betrugsvorwürfe. Das Präsidentschaftswahlrecht sollte daher umgehend reformiert werden, der US-Präsident künftig direkt von den Wählern gewählt, nicht mittels Wahlleuten.

Die Wahlleute sind ein Relikt aus dem 18. Jahrhundert. George W. Bush und Donald Trump verdanken ihre Siege bei den Präsidentenwahlen in den Jahren 2000 und 2016 diesem Relikt. Beide sind sie in das Weiße Haus eingezogen, obwohl sie weniger Stimmen erhielten als ihre Mitbewerber Al Gore und Hillary Clinton. Wie sähe die Welt heute aus, wenn 2000 und 2016 die Mehrheit der Wähler und nicht die Mehrheit der Wahlleute den Ausgang der Präsidentenwahl entschieden hätte? Und wie sähe die Welt heute aus, wenn im November 2020 45 000 Biden-Wähler in Arizona, Georgia und Wisconsin zu Hause geblieben wären, statt an der Wahl teilzunehmen? Über die Antwort auf die erste Frage kann nur spekuliert werden. Die Antwort auf die zweite ist eindeutig: Es wäre ein Albtraum.

Roland Sommer, Diedorf

Partnerschaft ohne Illusionen

Es ist höchste Zeit, dass sich die USA wieder in der Weltgemeinschaft zurückmelden und ihre menschliche Seite wieder fassbar werden lassen. Die Europäerinnen und Europäer dürfen sich natürlich keine Illusionen machen und sollten sich darauf einstellen, dass Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris natürlich auch US-amerikanische Interessen vertreten werden. Aber die existierende Partnerschaft im Rahmen der transatlantischen Beziehungen wird mit Sicherheit auch bei Konflikten wieder spürbar werden.

Biden wird innenpolitisch die größten Auseinandersetzungen fürchten müssen, weil Rechtspopulisten, Rechtsradikale und Faschisten nicht aufhören werden, ihm Steine in den Weg zu legen und Stimmung zu machen gegen die liberalen Werte der US-Verfassung. Biden wird hierbei auch die ideelle Unterstützung aus Europa benötigen. Es wird darauf ankommen, dass der neue Präsident an die von den Demokraten gestellten US-Präsidenten anknüpft und eine Politik betreibt, die ihr Schwergewicht auf die Durchsetzung der Rechte der entrechteten Minderheiten in Amerika legen wird. Es gibt jedenfalls viel Anlass dafür, davon auszugehen, dass Joe Biden als ein Präsident in die Geschichte eingehen wird, der sich aufrichtig um die Durchsetzung seiner Überzeugungen bemühen wird.

Manfred Kirsch, Neuwied

Weniger Macht für Präsidenten

Die USA als "gefestigte Demokratie" zu bezeichnen, halte ich für eine Fehleinschätzung. Allein die Machtfülle des Präsidenten hat doch eher diktatorische Ausmaße, wie zuletzt all die Begnadigungen beweisen. Nur hat bisher kein Präsident der USA vor Donald Trump diese überbordende Macht so rücksichtslos ausgeübt. Nur eine längst überfällige Verfassungsänderung, mit der auch die aus der Zeit gefallene Präsidentenwahl vereinfacht werden müsste, kann Abhilfe schaffen und die Demokratie in den USA für die Zukunft wirklich festigen.

Heinrich Schwab, Stockdorf

Die Jugend auf Versöhnungskurs

Dieses Land ist kaputt, mit großen Teilen der Trump-Wähler ist ein Dialog kaum möglich, das Biden'sche Mantra von der großen Versöhnung ist Augenwischerei, und es stimmt auch, dass Reagans Aufteilung der Welt in die Reiche des Bösen und des Guten ein Brandbeschleuniger für Hass und Unversöhnlichkeit war. Nur: Die US-Gesellschaft war von Anfang an auf Gewalt, Intoleranz und Ausbeutung gegründet. Die Hexenprozesse von Salem, die Sklavenhalterei, die an Genozid grenzenden Massenmorde an Indianern, die Zerstörung der Natur, die Interventionen der USA in anderen Ländern, der bis in die Gegenwart anhaltende latente und offene Rassismus, all dies zusammengehalten von Bigotterie und hyperventilierendem Nationalismus waren und sind Kennzeichen dieses Landes - Reagan hin oder her.

Zweifel sind auch angebracht ob der Läuterung der "Grand Old Party" (GOP). Wenn Betsy de Vos, Elaine Chao und Kelly Loeffler - allesamt bis vor wenigen Tagen glühende Trumpistinnen - und andere Würdenträger der GOP jetzt hinwerfen, dann ganz bestimmt nicht aus später Einsicht in die verheerende Politik dieser Regierung, sondern weil sie ihre Karriere-Felle davonschwimmen sehen. Die große Mehrheit der Republikaner wird weiterhin dem Trump'schen Wertekatalog und dessen Diskurslinie verbunden bleiben: Build the wall, lock her up, send them back. Da ist wenig Sinneswandel zu erwarten.

Aber bei allen Irrationalitäten, die dieses Land von Beginn an prägten, ein Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit scheint doch nicht ausgeschlossen zu sein: Egal ob Paul Robeson oder Bruce Springsteen, ob Sinclair Lewis oder T. C. Boyle - es gab und gibt eine lebendige, widerständige Kultur, die einer gerechten und friedvollen Gesellschaft verpflichtet ist, es gibt The Squad, es gibt junge, progressive Politikerinnen und Politiker, und es hat sich zum ersten Mal seit den Sechzigerjahren eine politisierte Jugend zu Wort gemeldet. Ohne deren Engagement wäre Bidens Sieg nicht möglich gewesen.

Ethnien werden sich ihrer Macht bewusst und lassen sich nicht mehr an der Nase herumführen. Natürlich ist ungewiss, ob sich diese Tendenz verstetigt, aber Hoffnung ist doch angebracht, dass sich bei immer mehr Menschen die Einsicht durchsetzt, dass Hass, Ausgrenzung, Profitgier, Naturzerstörung nichts zu einem glücklichen Leben beitragen.

Etwas weniger God save our troops, God bless the United States of America, we are God's own country wäre schon ein Anfang. Verdient hätte es dieses Land, das man bei aller Kritik durchaus auch lieben kann, allemal.

Karl Ischinger, München

Rückgriff auf alte Zeiten

Joe Bidens Amtsübernahme war kein Aufbruch in eine neue Zeit. Es war eher ein Rückschritt nach dem Trump'schen antidemokratischen Betriebsunfall in die Zeit vor ihm; ein Rückgriff auf ein altes Demokratiemodell mit Popstars, evangelikalen Predigern und Eid auf die Bibel. Keine Reaktion auf die in den Trump-Jahren veränderte Welt, wirtschaftlich (China) und sozial (Europa).

Eine Amtseinführung eines Präsidenten ohne Publikum unter Militärschutz kennt man bisher nur von theokratischen und diktatorischen Regimen. Das historische US-Demokratiemodell bedarf dringend einer humanitären (Gleichberechtigung aller Menschen nach Herkunft, Hautfarbe, etc.) und ökonomischen Erneuerung (Abschaffung der Vorherrschaft der Milliardäre).

Erich Raab, München

Erfreuliche erste Schritte Bidens

Die ersten Dekrete zeigen, dass Joe Biden die Fehlentscheidungen seines Vorgängers in die richtige Richtung lenken will. Bei Trumps Flucht vom Militärflughafen Washington glomm kurzfristig ein Fünkchen Verstand auf, als er der neuen Regierung Erfolg wünschte, doch diesen zertrampelte er sogleich wieder, indem er sich selbst beweihräucherte, dass er Großes bewirkt habe. 400 000 Corona-Tote als große Leistung zu bezeichnen, ist allerschlimmste zynische Verhöhnung der amerikanischen Bevölkerung. Aber wenden wir uns lieber erfreulicheren Nachrichten zu, Biden tritt dem Pariser Klimaschutzabkommen wieder bei und auch der WHO, es fehlt eigentlich nur noch, dass er den Atom-Deal mit Teheran wieder in Kraft setzt. Das sind wirklich erfreuliche Aussichten!

Bernd Diesel, Emsbüren

© SZ vom 23.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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