Psychische Erkrankungen:Der lange Weg zur Therapie

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Leiden immer mehr Menschen an Depressionen oder Angstzuständen oder hat die Gesellschaft einfach verlernt, mit negativen Gefühlen umzugehen? SZ-Leser, darunter einige vom Fach, zeichnen ein sehr differenziertes Bild.

Wenn ruhiges Nachdenken und regelmäßiger Stressabbau alleine nicht mehr hilft: Viele Menschen leiden an extremem Druck, was auf Dauer zu psychischen Erkrankungen führen kann. (Foto: Sasha Freemind/unsplash)

"Traurige Erkenntnis" vom 19./20. Januar:

Zweifel an den Daten

Es ist in unserer Zeit sicher angebracht, die zunehmende Medikalisierung und Pathologisierung des alltäglichen Lebens infrage zu stellen, wie es in dem Artikel zum Ausdruck kommt. Ich denke da vor allem daran, dass es fast normal geworden ist, wegen einer banalen Erkältung den Arzt aufzusuchen, oder Kinder beim Arzt vorzustellen, wenn in der Schule die Leistung nicht stimmt und dann ADHS oder ähnliches als Diagnose zu erwarten, so dass man medizinisch eingreifen kann.

Im Bezug auf die psychischen Erkrankungen erscheint mir aber unsere Gesellschaft noch lange nicht so weit, dass es zu einer übertriebenen Inanspruchnahme von Behandlungsangeboten kommt. Wie der Chefarzt einer psychosomatischen Klinik die These vertreten kann, dass 40 Prozent der Patienten in den Praxen nicht krank seien, ist mir schleierhaft. Die wissenschaftliche Datenlage ist das nicht.

Die Patienten, die in meine Praxis kommen, haben meist schon eine lange Krankengeschichte hinter sich, mit vielen medizinischen Untersuchungen, erfolglosen Behandlungen, lange Zeiten von Arbeitsunfähigkeit. Sie leiden unter chronischen Schmerzen, massiven Ängsten und Depressionen mit massiven, belastenden Schlafstörungen, die ihnen die Kraft und den Antrieb zum Arbeiten und Leben rauben. Wenn heute die Schwelle, einen Psychologen aufzusuchen, nicht mehr ganz so hoch ist, weil in der Öffentlichkeit mehr Aufgeschlossenheit vorhanden ist und Ärzte auch besser geschult sind, entsprechende Diagnosen eher zu stellen, so kann man bei weitem noch nicht davon reden, dass jetzt eine Flut von angeblichen Hypochondern oder Lifestyle-Perfektionisten die Praxen aufsuchen.

Dipl.-Psych. Gustav Mayer, Bischberg

Aus Scham nicht zum Arzt

Wie solche Fantasie-Zahlen, wonach 40 Prozent der Psychotherapie-Patienten angeblich gesund sein sollen, zustande kommen, ist mir rätselhaft. Man kann vielmehr davon ausgehen, dass nach wie vor ein Großteil der psychisch Kranken aus Scham, fehlender Krankheitseinsicht oder anderen Gründen nie in Therapie geht. Das eigentliche Problem liegt daher ganz woanders: Wenn infolge der zunehmenden Enttabuisierung psychischer Krankheiten die Zahl der Therapienachfragen steigt, entsteht ein Rationierungsproblem, da die Zahl der Therapieplätze aus Kostengründen dem steigenden Bedarf nicht angepasst wird. Was liegt da näher, als einem Großteil der psychisch Kranken ganz einfach die Berechtigung, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, abzusprechen? Leider bläst der Artikel in jenes Horn, aus dem psychisch Kranken schon immer der Spruch entgegenschallt: Stellt euch nicht so an! Denn im Grunde ist es der Gesellschaft lieber, wenn seelisches Leiden dort bleibt, wo es früher gewesen ist, nämlich im Verborgenen, weil es einen der Verantwortung enthebt, darauf reagieren zu müssen.

Dipl.-Psych. Peter Kramp, Schwalmstadt-Treysa

Leiden an der Gesellschaft

Der Bericht von Christina Berndt spiegelt die Hypersensibilisierung und Selbstunsicherheit vieler Menschen wider, die sich bei psychischer Überbelastung - wie unerklärlich emotionalen Stimmungsschwankungen, körperlichen Missempfindungen und anhaltendem Stress - schnellstens an eine psychotherapeutische Praxis wenden, dann notgedrungen das komplizierter werdende Prozedere vor Beginn der Behandlung durchlaufen. Die geschilderten Beobachtungen sind nachzuvollziehen, Menschen leiden, sei es unter Hypochondrie oder zwanghafter Selbstbeobachtung, vor allem unter mangelnder Frustrationstoleranz.

Die Autorin erwähnt jedoch kaum die gesellschaftlichen Hintergründe von Ängsten, von Bedürftigkeit und Ratlosigkeit, für mich Symptome des "falschen Selbst", das den gesellschaftlichen Entfremdungstechniken und den zweckrationalen Optimierungsstrategien ständig über Helferangebote und Ratgeberlektüre ausgesetzt ist. Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten, Schul- und Bildungsstätten können die familiär und gesellschaftlich bedingten Entwicklungsdefizite, die Folgen der Vereinsamung trotz permanenter Vernetzung, kurz die Entfremdung des Einzelnen durch Anpassung und soziales Wohlverhalten in Beruf und Freizeit, kaum auffangen.

Individuelles Leiden lässt sich übergreifend auch als Leiden an der Gesellschaft verstehen. Die gesellschaftliche Verursachung von Leid wird jedoch weitgehend abgewehrt, von Betroffenen und Helfern übergangen, der Medizinalisierung von Psychotherapie und Psychoanalyse wird weiterhin die Türen geöffnet. Psychotherapeuten stützen sich vorzugsweise auf nur klinische Diagnosen, Krankenkassen zahlen vor allem mit dem Ziel der raschen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Die zeitliche Verkürzung von Kurzzeittherapien entspricht diesem funktionalen Anliegen im Sinne politökonomischer Optimierung. Das allgemeine Verständnis für die Normalität alltäglicher seelischer Beunruhigungen und für die Hintergründe persönlicher Beschwerden könnte sicherlich wachsen, wenn gesamtgesellschaftlich - und somit in Pädagogik und Therapie - der Entwicklung autonomer Kritik- und Urteilsfähigkeit und umfassend der Stabilisierung eines autonomen Selbst mehr Gewicht zugesprochen würde. Das hieße zugleich, der Rückbesinnung der Psychotherapie und der Psychoanalyse auf ihre kulturkritischen Wurzeln in der gesellschaftlichen Diskussion wieder mehr Raum einzuräumen.

Dr. phil. Annedore Hirblinger, Dießen

Vieles wird nicht mehr gelehrt

Leider stellt Christina Berndt sich nicht die Frage nach den Ursachen der von ihr kritisierten Überängstlichkeit: warum sind die Menschen zunehmend psychisch labil? Kennt sie wirklich nicht die Statistiken der Krankenkassen über die gravierende Zunahme von psychischen Erkrankungen? Und selbst wenn die Menschen so leicht verunsichert sind - warum haben sie nicht gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen? Ich erinnere nur daran, dass sich nach den 68er Jahren eine breite Bewegung der Humanistischen Psychologie entwickelte, der es nach dem Faschismus darum ging, erst mal zu lernen, sich zu verstehen, um sich und sein Human potential zu verwirklichen. Da reichte sogar die Psychoanalyse nicht mehr.

Seit dem Rollback des Neoliberalismus ab den 80ern wurde auch diese kulturelle Revolution rückgängig gemacht: die Psychoanalyse wurde von der Verhaltenstherapie aus den Universitäten herausgedrängt, obwohl diese selbst keine Theorie vom Menschen und seinen Bedürfnissen hat, sondern nur auf das Funktionieren ausgerichtet ist. Selbst im Psychologiestudium werden andere Therapieverfahren wie Tiefenpsychologie, Humanistische Körperpsychotherapien, Hypnose etc. nicht gelehrt, obwohl dies über 80 Prozent der Studenten wünschen!

Jens Christian, München

Vom Raubbau an sich selbst

Als selbständige Psychotherapeutin mit Privatpraxis irritiert mich, dass ich die beschriebene "Patienten"-Gruppe nicht kenne. Ja, meine Patientinnen und Patienten sind überwiegend jung und gebildet. Aber jede und jeder einzelne von ihnen kommt mit einem hohen Leidensdruck zu mir. Gemeinsam ist sehr vielen, dass sie bereits seit langem unter enormem Druck stehen, von außen wahrgenommenen und eigenen unrealistisch hohen Erwartungen ans eigene Funktionieren in Beruf, Partnerschaft und so weiter zu entsprechen. Therapieanlass sind dann manifeste psychische Störungen, vor allem Depressionen und Angststörungen, die sich vor dem Hintergrund dieser Dauerbelastung entwickelt haben.

Es ist in der Therapie oft ein langer Weg vom Raubbau an sich selbst hin zum Erkennen und Berücksichtigen eigener persönlicher Grenzen und zu einem sorgsameren Umgang mit den eigenen Kräften. Gerade diese an Performance orientierten jungen Menschen schämen sich für ihre Probleme, bagatellisieren sie und fordern unerbittlich von sich selbst, doch "nicht so empfindlich" zu sein, sich "nicht so anzustellen". Stammtisch-Klopper wie "Heutzutage meint ja jeder, der mal mies drauf ist, er habe eine Depression" oder Christina Berndts Ratschlag, es doch mal mit einen Punchingball oder einem Bier mit einem Freund in der Kneipe zu versuchen, blasen genau in dieses Horn und befeuern bei Betroffenen die selbst abwertende "Hab-Dich nicht so"-Haltung.

Ich bin wahrlich kein Befürworter des vor Gesundheitsminister Jens Spahn geplanten "Terminservice- und Versorgungsgesetzes". Aber sollte seine "gestufte und gesteuerte Versorgung" kommen, wäre ich doch gespannt, wie viele Therapiesuchende ohne Therapiebedarf dann herausgefischt werden - vorausgesetzt natürlich, die geplante Selektion wird seriös gehandhabt und ordentlich evaluiert (was ich bezweifle, ich vermute, es geht schlicht darum, zulasten psychisch Kranker Kosten einzusparen, wo eigentlich mehr Kassensitze nötig wären). Dann hätten wir zumindest endlich einmal belastbare Daten zu dieser Thematik, anstatt wie bislang nur wüste Spekulationen, Vermutungen und Unterstellungen.

Dipl.-Psych. Dr. Nina Hollenbach,München

© SZ vom 05.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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