Psychisch Kranke:Doppelt verloren

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In mehreren Artikeln berichtete die SZ über die Pläne des Gesundheitsministers Jens Spahn zur Versorgung von psychisch Kranken. Leser, die als Psychotherapeuten oder Psychiater arbeiten, berichten hier über ihren Alltag.

SZ-Zeichnung: Denis Metz (Foto: N/A)

" Verkannte Not der psychisch Kranken" vom 15./16. Dezember und " Ausgebucht" vom 12. Dezember:

Behandlungs-Bittsteller

Im ersten Moment dachte ich beim Artikel "Verkannte Not der psychisch Kranken", ich hätte mich verlesen: "Verkannte"? Nicht "Erkannte"? Tatsächlich ist das Problem in der Gemengelage von Zuständig- und Verantwortlichkeiten doch längst bekannt, erkannt und hingenommen:

Die Kassenärztliche Vereinigung, die seit Langem ihrem Auftrag, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, nicht nachkommt, aber weiterhin existiert, hält durch die Reglementierung der Zulassungen die Versorgungssituation bewusst knapp, erschwert zudem Zugang zu Therapie durch Bürokratie. Die Krankenkassen sind ausgaben- und wenig patientenorientiert. Im Fall psychischer Erkrankungen könnte sofort die Versorgungssituation verbessert werden, wenn die gesetzlichen Kassen zum Beispiel die approbierten Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung auch ohne schwierigen Hindernislauf für die betroffenen Patienten honorieren würden - so wie es die privaten Kassen ohne Schwierigkeit machen.

Die Gesetzgeber kennen endlose Petitionen, Eingaben, Gremienstellungnahmen und verschleppen seit Jahren Modifizierungen im Bereich Psychotherapie - wie auch in der gesamten Medizin. Während Patienten zu Behandlungs-Bittstellern degradiert und in Warteschleifen vertröstet werden, schustern sich die Köpfe der Organisationen horrende Saläre zu.

Natürlich: Es gibt auch andere Einflussfaktoren. Aber bei den genannten liegt Veränderungs-Verantwortung. Doch wer in Politik und Verwaltung in diesem System sozialisiert wurde, ist wohl veränderungsinkompetent und -resistent. "Verkannt"?

Prof. Christian Schulte-Cloos, Warngau

Hoher Leidensdruck

Ich arbeite seit Langem als Psychotherapeut in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxengemeinschaft. Im Zuge eines Gesprächs über die Selektionspläne von Minister Jens Spahn verdeutlichte die psychiatrisch tätige Kollegin die Anforderungen, die der Praxisalltag mit ihren Patienten bedeute - zum Beispiel häufige suizidale Krisen, Organisation und Kommunikation im psychosozialen Hilfesystem, häufige zusätzliche Telefonkontakte. Zweifellos eine fordernde Tätigkeit mit schwer belasteten Menschen!

Psychotherapeuten hingegen wird im Subtext des geplanten Gesetzes unterstellt, dass sie insbesondere Wellnessanliegen ihrer Patienten bedienen - und in der Folge zu wenig Plätze für wirklich ernsthaft psychisch erkrankte Menschen zur Verfügung stellten. Ein Blick auf die von mir seit Jahrzehnten behandelten Patienten ergibt ein anderes Bild: durchweg

Menschen mit einem hohen Leidensdruck, von ihrer jeweiligen Symptomatik in Anspruch genommen, häufig sozial zurückgezogen oder in verkomplizierten sozialen Beziehungen lebend, krankheitsfördernden gedanklichen und emotionalen Mustern ausgeliefert, oft kombiniert mit Schlafstörungen, verringerter Leistungsfähigkeit, körperlichen Beschwerden - meist auf der Basis von drastischen negativen Kindheitserlebnissen in den relevanten Bindungen. Natürlich gibt es Unterschiede im Schweregrad, jedoch besteht in der Regel ein unmittelbarer Behandlungsbedarf. Wer will hier richten, welcher Patient vorrangig in eine Therapie darf? Das wird häufig an unterlassene Hilfeleistung grenzen. Die Vertrösteten, die im einmaligen Kontakt den ihnen unbekannten Selektor nicht von der Schwere ihrer Beschwerden überzeugen konnten, werden an einen Kurs der Krankenkassen verwiesen? Das Recht auf freie Behandlerwahl wird ganz nebenbei ausgehebelt.

Steuerungsmöglichkeiten gibt es seit Längerem: durch den Hausarzt als Lotsen, im Nachgang zu Klinikaufenthalten, durch die Sprechstunde der Psychotherapeuten selbst. Zusätzliche Selektionsfilter ändern nichts an der Problematik, dass weiterhin zu wenig Behandlungsplätze zur Verfügung stehen, weil mit veralteten Bedarfszahlen gerechnet und die Bedeutung psychischer Störungen unterschätzt wird.

Dr. Roland Dönicke, Bonn

Leben in der Wahnwirtschaft

Seit 2017, mit Einführung der sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunde in die psychotherapeutische Versorgung, wird durch die von den kassenärztlichen Vereinigungen zugelassenen Therapeutinnen und Therapeuten bereits eine Vorauswahl der Patienten vorgenommen. Das Beratungsangebot beinhaltet Fragen zur Indikation (Schwere der Erkrankung), Setting (ambulant vs. stationär/tagesklinisch), Dringlichkeit und die unterschiedlichen Therapieformen, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Aus den vielen Sprechstunden wird aber auch eine Tendenz deutlich, dass immer mehr Versicherte aufgrund von Notsituationen psychotherapeutische Hilfe suchen, die allerdings mit den Mitteln der Psychotherapien nicht beeinflussbar und somit nicht behandelbar sind.

Die Notsituationen, die entstehen durch Trennungen aller Art innerhalb von Familien, durch den Verlust von Arbeit und die Änderungen von Arbeitsprozessen, führen zu zunehmenden Ängsten einer älteren und vereinsamenden Gesellschaft, die ihren inneren Halt und ihre inneren Werte durch fortlaufende Prozesse der Ökonomisierung verliert. Das kann Psychotherapie nicht auffangen. Eine Änderung der globalisierten Wahnwirtschaft ist auch nicht abzusehen. Für die seelisch erkrankten Patientinnen und Patienten benötigen wir keine neuen TriageExperten (Auswahl der Schweregrade) sondern ein intelligenteres Bewilligungssystem. Die schweren psychischen Störungen (Borderline-Patienten, liebenswerte Psychotiker) bedürfen deutlich längerer Therapien, zum Teil auch über Jahre, als es der G-BA (Gemeinsame Bundesausschuss) und die Krankenkassen wahrhaben wollen, die als primäres Ziel die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit im Blick haben. So funktioniert aber der kranke Mensch nicht, der seine Wurzeln verloren hat und mit seinen existenziellen Sorgen Hilfe sucht.

Dr. Christoph Schay, Herten

Ethisch verpflichtet

Wir brauchen mehr Zulassungen für ambulante PsychotherapeutInnen, und alle Versuche, die Versorgung auf dem Stand der (damals schon willkürlichen) Bedarfsdefinition aus dem Jahre 1999 zu verbessern, sind zum Scheitern verurteilte kosmetische Verrenkungen. In unserer Praxis sehen wir pro Woche vier und mehr neue PatientInnen, bei denen in der Regel ein sofortiger Psychotherapiebeginn indiziert ist. Statt sie dann jedoch wegen eigenem Kapazitätsmangel auf die Suche nach einem/r anderen PsychotherapeutIn zu schicken (wie es die Neufassung der Psychotherapierichtlinien als Möglichkeit vorsieht), fühlen wir uns ethisch verpflichtet, die Versorgung selbst zu übernehmen und haben deswegen aktuell Wartezeiten für Erstkontakte bis in den Mai nächsten Jahres.

Wir arbeiten dabei möglichst kurz (oftmals im Rahmen von zehn bis 15 Sitzungen), versuchen, PatientInnen vor Beginn der Therapiegespräche zunächst über Beratungsstellen, Selbsthilfeorganisationen oder Literaturempfehlungen zu versorgen und behandeln sicher keine Menschen, die Psychotherapie als Plauderstündchen nutzen wollen. Was will uns Gesundheitsminister Jens Spahn im "Morgenmagazin" und auf Facebook denn mitteilen? Dass wir keine Indikation stellen können und deswegen keine behandlungsbedürftigen Störungen therapieren? Wo sind denn die von ihm genannten "Tausende neuer Zulassungen" geblieben?

Er geht den einfachen Weg: Statt über die seit Jahren bestehende Unterversorgung mit PsychotherapeutInnen zu diskutieren, wird unserer Berufsgruppe der Schwarze Peter zugeschoben, dass wir unsere Therapieplätze mit Menschen füllen, die gar keine Therapie benötigen? Um uns dann mitzuteilen, dass es wohl vorgeschaltete Zuweiser brauche, die endlich die richtige Indikation für Psychotherapie stellen? Ein Schlag ins Gesicht der über 20 000 hervorragend ausgebildeten PsychotherapeutInnen, die selbst nicht mehr wissen, wie sie die von Kassen und Politik verursachte Mangelversorgung noch bewältigen können!

Ein paradoxer Nebeneffekt des Spahnschen Vorschlags wäre ja, dass er für diese Indikationsfunktion erfahrene PsychotherapeutInnen bräuchte, die aufgrund dieser Aufgabe dann jedoch der Versorgung nicht mehr zur Verfügung stünden. Wann begreift die Politik und die Kostenträgerseite endlich, dass eine gute Versorgung psychisch kranker Menschen eben Geld kostet, dafür aber unzähliges Leid lindert und viele Menschen am Leben hält?

Dr. Michael Broda, Dahn

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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