Präsident Selenskij:Richtige oder beschämende Reaktion des Bundestags?

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Ob es eine gute Idee war, gleich nach der flammenden Rede von Selenskij zur Tagesordnung überzugehen, darüber kann man geteilter Meinung sein - über die Forderungen und Vorwürfe des ukrainischen Präsidenten aber auch.

Standing Ovations für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij im Bundestag. (Foto: IMAGO/Future Image)

Zu "Eine bittere Anklage" und "Welch verpasste Chance" vom 18. März:

"Nie wieder" sind nur Worte

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag Klartext gesprochen: Wer alljährlich der durch ein fehlgeleitetes deutsches Volk und einen mörderischen Apparat an der Spitze herbeigeführten Apokalypse feierlich mit den Worten gedenkt "Nie wieder!", es gleichzeitig aber gemeinsam mit seinen Verbündeten unterlässt, kriegsentscheidend die Ukraine im sonst aussichtslosen Kampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen, der spricht "nur Worte".

Putin bombt die 400 000-Einwohner-Stadt Mariupol zurück ins Mittelalter und wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gesamte Ukraine okkupieren, weil die Nato Fracksausen hat. Es heißt, durch ein militärisches Eingreifen von Nato-Streitkräften könne die Situation in der Ukraine eskalieren; was ist denn die Eskalation von Sterben? Durch taktische atomare Sprengsätze sterben? Putin ist rücksichtslos, er ist unberechenbar, er belügt sein Volk, aber er ist nicht dumm, diese "rote Linie" zu überschreiten, hieße für ihn, alles, für das er diesen furchtbaren Krieg führt, zu verlieren.

Der ukrainische Präsident prangert zu Recht an, dass die Nato ihren Mitgliedern im "Bündnisfall" helfen würde, einen Aggressor aus dem Land zu jagen, gleichzeitig sieht sie zu, wie die russische Armee einen unabhängigen Nicht-Nato-Staat in die Vergangenheit bombt. Sollte es nicht um einen Imperativ des Helfens gehen, ohne diesen bornierten, ja zynischen Pragmatismus, der sich anmaßt, die Welt zu unterteilen in schützenswertes Leben von Mitgliedern eines bestimmten "Klubs" und jene, die diesem elitären Klub der Unangreifbaren nicht angehören? Annalena Baerbock hat sich - wie übrigens keiner ihrer Amtsvorgänger - eine "werteorientierte Außenpolitik" als Credo auf ihre Fahne geschrieben. Wer möchte da mitmachen?

Thomas Hübner, Münster

Klatschorgien statt Nachdenken

Der Bundestag hat eine Chance verpasst. Wenn man schon dem Präsidenten eines fremden Landes die Gelegenheit gibt, vor den Abgeordneten zu sprechen, hat dieser Präsident auch das Recht, eine entsprechende Antwort zu bekommen. Aber hätte Wolodimir Selenskij die Antwort verstanden, die einige Abgeordnete nach der Debatte formuliert hätten? Die Damen und Herren im Bundestag hätten das Problem gehabt, nach Standing Ovations zu einer Anklagerede das zu sagen, was Herr Selenskij nicht hören wollte. Es gibt weder einen schnellen Nato-Beitritt, noch weniger den zur EU. Und das mit der Flugverbotszone hätte er sich auch sparen können, denn dafür gibt es in der Nato nur ganz wenige Befürworter. Und ausgerechnet die wären neben Deutschland von den Reaktionen Putins zuerst betroffen.

Herr Selenskij gibt sich viel Mühe, dem "Westen", besonders Deutschland, große Mitschuld an der Eskalation zu geben. Dass die wirtschaftlichen Interessen bei Nordstream 2 diametral den ukrainischen Interessen entgegenstanden, ist nichts Neues. Eine EU-Aufnahme gegen alle Prinzipien hätte der EU schwer geschadet, aber den russischen Präsidenten kaum von etwas abgehalten. Eine frühere Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato hätte den Angriff der Russen zeitlich nur vorverschoben, nach allem, was wir von der Angst Putins vor Umzingelung wissen. Dass Nato-Berater in einem Nicht-Nato-Staat militärische Beratung durchgeführt hatten, hat diese Angst bestimmt nicht gemindert.

Sehr aussagefähig sind Selenskijs Aussagen über die "Mauer", die wir angeblich errichtet haben. Schon das Wort, wir hätten die Ukraine an Moskau "ausgeliefert", hätte einer sachlichen Debatte bedurft. Aber wie schon erwähnt, nach Standing Ovations eine deutliche Zurückweisung? So viel Courage haben deutsche Abgeordnete nicht. Und wer aus einem kritikwürdigen Staatschef innerhalb einer Woche einen "Helden" macht, dem fällt es natürlich schwer zu sagen: "So ganz unschuldig an dem ganzen Dilemma sind Sie auch nicht."

Das war keine Sternstunde des Parlaments. Aber der Bundestag kommt einem Kanzler, der soeben mal mit seinem Finanzminister 100 Milliarden "Sondervermögen" kreiert, statt mit Staunen und Verwunderung mit donnerndem Applaus, obwohl diese Investitionen nicht das Geringste an der Situation in der Ukraine ändern werden. So handelt eher ein autokratischer Herrscher, kein Kanzler in einer parlamentarischen Demokratie. Haben Pandemie und Krieg statt kritischem Nachdenken nur noch Klatschorgien hervorgerufen?

Thomas Spiewok, Hanau

Geschickter Präsident

Ich verurteile den Einmarsch Russlands in die Ukraine und die Besetzung der Krim. Ich finde, Herr Selenskij ist sehr geschickt darin, die Medien zu nutzen, als ehemaliger Schauspieler wohl kein Wunder. Ich habe den Eindruck, dass er versucht, allen ein schlechtes Gewissen zu machen, was richtig wäre zu haben, und Forderungen stellt, die ich kritisch sehe. Daher habe ich eine Anregung an ihn: "Herr Selenskij, drehen Sie doch endlich den Gashahn zu und machen Sie keine weiteren Geschäfte mit Russland."

Michael Beck, Wolfenbüttel

Selenskij hätte alle Möglichkeiten

Selenskij hätte die sofortige Beendigung des Krieges in der Hand. Er bräuchte nur die Neutralität der Ukraine zu verkünden. Stattdessen fordert er Waffenlieferungen, womit er lediglich die Verlängerung des Krieges und die damit einhergehende Zerstörung seines Landes bewirkt. Und der Westen applaudiert diesem Repräsentanten der vor Kurzem noch als völlig korrupt eingestuften ukrainischen Politikerkaste und ist sich wohl der Eskalationsgefahren nicht bewusst.

Gerd Wienke, Mechtersen

Scham

Herr Scholz, als Kriegskind, das 1945/46 durch ein zertrümmertes Düsseldorf zur Schule gewandert ist, schäme ich mich, Sie zum Bundeskanzler gewählt zu haben. Wie kann man, aus einer bald zusammengeschossenen, zerbombten ukrainischen Stadt, in einem Notschrei direkt ausgesprochen, mit Geburtstagsglückwünschen zur Tagesordnung übergehen?! Ja, ich schäme mich.

Dr. Klaus Kellermann, Bielefeld

Beschämender Oppositionsführer

Auch ich fand die Ereignisse im Bundestag im Anschluss an die Rede von Präsident Selenskij würdelos, aber aus einem anderem Grund als ARD, ZDF und fast alle überregionalen Medien. Die Versuche von Friedrich Merz, sich und seine Partei als die wahren Sachwalter von Demokratie und Freiheit zu inszenieren, fand ich beschämend. Hat man denn schon vergessen, wie viele CDU-Politiker auf der Gehaltsliste des Unrechtsstaats Aserbaidschan standen und stehen? Soll die Öffentlichkeit etwa nicht mehr wissen, dass in 33 der letzten 40 Jahre Kanzleramt und Verteidigungsministerium von CDU/CSU besetzt waren? Wem haben wir denn die Abschaffung der Wehrpflicht zu verdanken? Das waren doch keine vaterlandsvergessenen Appeasement-Politiker, sondern CSU-Verteidigungsminister Guttenberg höchstselbst. Ich finde es beängstigend, wie viele kalte Krieger in fast allen Parteien plötzlich wieder Morgenluft wittern, weil sie es angeblich schon immer haben kommen sehen. 60 Jahre Rüstungskontrolle und Entspannungspolitik werden aber nicht von heute auf morgen falsch, wenn ein Politkrimineller wie Putin die Grenzen der Abschreckung austesten will. Im Gegenteil: Gerade dann erwarte ich von meiner Regierung, dass sie einen kühlen Kopf bewahrt und sich nicht vom Propagandakrieg anstecken lässt, der auf beiden Seiten geführt wird. Vor 20 Jahren beim Irakkrieg war das auch möglich. Auf keinen Fall sollte sie sich aber von ausländischen Regierungen oder der Opposition zu medienwirksamen Selbstanklagen nötigen oder zu Maßnahmen drängen lassen, die sie nicht durchhalten kann oder die am Ende den ganzen Kontinent ins Unglück stürzen. Solange es die demokratischen Parteien im Parlament nicht schaffen, einen Konsens über unsere zukünftige Sicherheitspolitik zu finden, solange wird es, fürchte ich, weiterhin zu solchen Szenen kommen.

Hans Weber, Kaiserslautern

Dankbar für die deutsche Politik

Ich bewundere den ukrainischen Präsidenten mit seiner emotional aufrüttelnden Rede. Aber ich bedaure auch sein Nicht-erkennen-wollen, dass Olaf Scholz seine Pflicht erfüllen muss, um sein Volk, also uns, zu schützen. Dass unser Beitrag mit den weltweit abgestimmten wirtschaftlichen Sanktionen und dem Bemühen um Begrenzung des Kriegsgeschehens als unzureichend gewertet wird, ist verständlich. Dass aber dies die Behauptung erlaubt, Deutschland hätte den Krieg verhindern können, geht zu weit. Ich bringe es auf den Punkt: Ich bin wirklich dankbar, wie die MS Deutschland in diesem schweren Seegang bisher gesteuert wurde.

Stephan Hansen, Ergolding-Piflas

Rücksichtsloser Egomane

Ich bin von Selenskij überhaupt nicht beeindruckt. Ich fand es richtig, dass der Bundestag nach seiner Rede sofort wieder zur Tagesordnung überging. Die richtige Entscheidung, um ihn nicht überzubewerten. Ich hätte ihm gesagt: Hör auf zu labern und schalte deinen gesunden Menschenverstand ein. Was du dem Volk zumutest, ist unverantwortlich. Dein Verhalten ist das eines rücksichtslosen Egomanen zur Selbstdarstellung. Was nützen deinem Volk Tausende Tote, zerstörte und entvölkerte Städte, vernichtete Existenzen für ein vermeintliches Recht auf Selbstbestimmung, das du nicht durchsetzen kannst und das du nach dem Ende des Krieges nicht haben wirst. Du hast dann ein zerstörtes Land ohne Zukunftsperspektive, und ein Beitritt zu EU oder Nato ist ferner als je zuvor. Es ist eine sinnlose und zerstörerische Politik, die zu keinem Ziel führt. Mir fehlt dafür jedes Verständnis.

Horst Zeck, Buchholz

Überzogene Forderungen

Zweifellos ist der Angriff Russlands auf die Ukraine inakzeptabel und das von diesem Angriff erzeugte Leid dramatisch. Da ich seit 2007 Inhaber eines Betriebes in der Ukraine bin, dort Freunde und Mitarbeiter habe, ist mir jede Unterstützung zum Wohl der Ukrainer willkommen. Dennoch ist die Art, in der die ukrainische Führung Forderungen an Deutschland und andere EU-Mitgliedsstaaten stellt, inakzeptabel. Diese entsprechen einem Muster, das ich seit Langem in der Ukraine beobachte: Die Einstellung, dass andere einem etwas schuldig seien (ohne Rücksicht auf Begründetheit und Verhältnismäßigkeit), man selbst aber keine Verpflichtungen habe.

Wenngleich ich es begrüßen würde, wenn die Ukraine EU-Mitglied würde, so sind damit doch Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit verbunden, die die Ukraine bisher bei Weitem nicht erfüllte. Die Korruption ist extrem hoch, Staatsorgane werden meines Erachtens im Rahmen von Beziehungsgeflechten zur Durchsetzung der Interessen von kriminellen Clans missbraucht. Damit muss sich die Ukraine auf innerstaatlicher Ebene auseinandersetzen. Solange die Korruption nicht abgestellt ist, scheint mir ein EU-Beitritt nicht akzeptabel. Der Versuch, einen EU-Beitritt unter Nutzung der gegenwärtigen Situation durchzusetzen, scheint mir unangemessen. Es fördert eine Eskalation des Krieges.

Falschheit zeigt sich auch beim Gastransport: Lieferungen in die EU sind für die Ukraine auch jetzt noch akzeptabel, wenn sie durch ukrainische Pipelines stattfinden und die Ukraine daran verdient - obwohl so die russische Kriegsmaschinerie finanziert wird. Dreist agiert der Botschafter der Ukraine, Herr Melnyk. Er äußert sich abwertend und beleidigend über deutsche Politik, versucht, Entscheidungen mit dem Vorwurf der Tolerierung des Tötens ukrainischer Kinder zu erpressen und so Entscheidungsträger zu Ungunsten deutscher Bürger zu manipulieren. Unter normalen Umständen wäre das ein Grund, der Ukraine seine Abberufung nahezulegen. Stattdessen schaffen ihm deutsche Medien in Interviews und Talkshows eine Bühne.

Natürlich braucht die Ukraine Hilfe, und wir sollten helfen. Jeder von uns kann Energie sparen. Jeder Kubikmeter Gas, jeder Liter Öl, der nicht verbraucht wird, reduziert unsere Abhängigkeit von Russland und schafft Spielräume für die Politik. Die Ukraine darf darauf hinweisen, es aber nicht einfordern, sich erpressend in die Politik anderer souveräner Staaten einmischen. Die Regierungsmitglieder haben einen Eid geleistet, zum Wohl des deutschen Volkes zu handeln, nicht sich zu Erfüllungsgehilfen ukrainischer Forderungen zu machen. Mit maßlosen, inadäquat vorgebrachten Forderungen geht die Ukraine das Risiko ein, die Solidarität ihrer Partner zu verspielen.

Dr.-Ing. Thomas Wünsche, Ilmmünster

© SZ vom 29.03.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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