"Nie wieder!":Eine bleibende Lektion aus der Geschichte

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Die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten, das sehen viele als extrem wichtig an, damit sich so etwas nicht wiederholt. Doch es gibt auch andere Stimmen. Und jemanden, der sein Trauma von damals jetzt erzählt.

Auf dem Mahnmal der Dachauer KZ-Gedenkstätte ist der Schwur verewigt: "Nie wieder.“ (Foto: Toni Heigl)

Zu "Mitten unter uns" vom 4. Februar und zu "Wir waren 15 000 Kinder in Theresienstadt" vom 28. Januar:

Aktueller denn je

Norbert Freis Kolumne "Mitten unter uns" ist aktueller denn je, sie sollte in den Abschlussklassen aller Schulen gelesen und diskutiert werden. Der darin zitierte Aufruf von Inge Auerbach, "die Vergangenheit darf nie vergessen werden", klingt dabei wie ein Hilferuf. Beklemmend ist, dass viele Deutsche (und Zugezogene) lieber vergessen wollen, einen Schlussstrich ziehen wollen. Je eher wir aber akzeptieren, dass dies nicht möglich sein wird, umso eher entziehen wir den Neonazis ihren Nährboden. Hat nicht jede Schülerin, jeder Schüler in Deutschland und im christlichen Europa im Laufe der Schulzeit irgendwann einmal von der "Christenverfolgung im alten Rom" gehört? Seitdem sind rund 2000 Jahre vergangen ..

. Je früher wir also erkennen und akzeptieren, dass "Auschwitz" nicht aus unserer Geschichte zu tilgen ist, desto früher erkennen wir hoffentlich auch die Verantwortung, die uns aus der schnellen Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft und aus der späteren Wiedervereinigung erwachsen ist. In einem in den 1960er-Jahren in Israel geführten Gespräch mit deutschen Jugendlichen sagte David Ben-Gurion schon damals richtungsweisende Sätze. 1. Satz: Es gibt keine Kollektivschuld. 2. Satz: Es gibt ein Volksgewissen, eine Volksverantwortung. 3. Satz: Ihr seid verpflichtet, das zu bekämpfen, was in eurem Volk aus der Vergangenheit heute noch lebendig ist. 4. Satz: Die Nazizeit war nicht nur eine Katastrophe für das Judentum, auch für alle Völker Europas und für Deutschland.

Als ehemaliger Berufsschullehrer fand ich diese Aussage Ben-Gurions in einem renommierten Sozialkunde-Buch der 1970erJahre. Doch leider nur deren ersten Satz. Unkritisch und ungeprüft habe ich ihn in meinen Unterricht eingebaut und sogar in der Lehrerfortbildung verwendet. Das tut mir heute sehr leid, denn dadurch habe ich Ben-Gurions mutige Aussage sinnentstellend weitergegeben. Alle vier Sätze gehören untrennbar zusammen, sie sind auch heute noch aktuell. Ich habe das vollständige Zitat von Ben-Gurion in "meiner" Süddeutschen gefunden.

Jürgen Hutschgau, Neustadt bei Coburg

Erinnerung ist Schutz

Der Holocaust verbindet Juden und nichtjüdische Deutsche auf eine unlösbare Weise. Die letzten noch Lebenden auf Seiten der Opfer wie auch auf denen der Täter sowieso. Aber genauso auch die Nachgeborenen, ganz gleich, ob ihre individuellen familiären Hintergründe von diesem Menschheitsverbrechen berührt werden oder nicht. Wir nichtjüdischen Deutschen haben von unseren Vorfahren, der Generation der Täter, die Verantwortung für ihre Verbrechen oder auch nur ihre Zustimmung zu den Verbrechen anderer übertragen bekommen. Der Völkermord an den europäischen Juden war nicht das Werk Hitlers, Heydrichs und Eichmanns als singulärer Gestalten, sondern wurde letztlich von der begeisterten Zustimmung des größten Teils der nichtjüdischen Deutschen zur Politik der Nazis getragen.

Als "Nachgeborener" bedarf ich keines Vergessens, ich bedarf auch keiner "Zerknirschtheit", wie Wolfgang Reinhard glaubt, um im Kreis anderer Völker akzeptiert zu werden. Das Erinnern, das dieser Historiker als von außen aufgezwungen, als "undeutsch" vielleicht sogar, sieht, ist der einzige Schutz dagegen, dass sich Gleiches oder Vergleichbares wiederholen kann. Hier und anderswo in der Welt.

Detlef Dunker, Bremen

Viele Anlässe des Gedenkens

Die Dominanz des Gedenkens an die sechs Millionen Holocaustopfer überdeckt das Gedenken an die Opfer des deutschen Militarismus. So verursachte der von Deutschland vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg weltweit etwa 60 Millionen Tote und der durch die deutschen Kriegserklärungen an Frankreich und Russland zum Ersten Weltkrieg gewordene Balkankrieg etwa 13 Millionen Tote. Dieser dreißig Millionen Kriegstoten wird in Deutschland mangels wirkungsvoller Lobby unangemessen wenig gedacht. Und der vielen Toten der päpstlichen Kirche anlässlich der Heidenverfolgung durch das frisch christianisierte Römische Reich, auch anlässlich der Kreuzzüge und der Hexenverfolgungen, sowie durch die Inquisition wird mangels Lobby so gut wie nicht gedacht.

Wolfgang Maucksch, Herrieden

Was bewirken Gedenktage?

Vermögen Gedenktage wie die zum 27. Januar 1945, als die Rote Armee dem Morden in Auschwitz ein Ende setzte, mehr zu erzeugen als die Illusion, dass künftige Generationen darüber gehindert würden, solche und ähnliche Menschheitsverbrechen zu wiederholen? Zweifel seien angebracht, ob das über Rituale, Besuche von Gedenkstätten und schulische Unterrichtseinheiten (wo bald die letzten Zeitzeugen ausbleiben werden) allein oder überhaupt gelingen kann. Denn es sind nicht bloß die Rückblicke in die lange Geschichte der Juden-Pogrome oder die Rundblicke in die gegenwärtige Welt mit der Vielzahl diverser Verfolgungen, die an eine Verhinderung solcher Abscheulichkeiten nicht recht glauben lassen: Es ist mehr der Blick in die Urgründe gesellschaftlichen Miteinanders und Gegeneinanders - und auch in das Wesen des Menschen an sich, welcher sich, vom allzu Komplexen überfordert, gern ans Einfache (oft einfach Falsche) und an dessen Botschafter hängt, der Schuldzuweisungen beim Anderen vornimmt, sich über andere erhebt, um vom eigenen Schicksal und persönlichen Versagen loszukommen. Wenn sich daraus marodierende Massen bilden sollten, dann sei dafür noch auf die andere Seite, auf das Potenzial kalter Agitatoren und Verführer geblickt: die nicht nur historisch auf der Wannsee-Konferenz zu besichtigen waren, sondern auch heute und wohl in aller Zukunft, in jeweils anderen Gewändern, als Manager und Techniker bereit stehen, um zum eigenen Nutzen, um einer abstrakten Sache willen oder um Mehrung an Macht die Schlichten, die Leichtgläubigen in der Masse zu überwältigen.

Wenn Bärbel Bas bei der Gedenkfeier im Bundestag feststellte, dass heute bei einem Drittel der Bevölkerung latente antisemitische Neigungen existieren, dann wäre mit all dem Genannten das Gesamtpotenzial beschrieben, das ein "Nie wieder" stets infrage stellt.

Klaus Dieter Edler, Hannover

Trauma bis heute

Nachdem zur Zeit Gott sei Dank wieder mehr Aufmerksamkeit der unseligen Judenverfolgung gewidmet wird und ich schon längere Zeit entsetzt bin über den immer mehr aufkommenden neuen Antisemitismus, muss ich doch einmal als Nichtjüdin das schlimmste Erlebnis in dieser Sache schildern, das wahrscheinlich jemals ein Mensch erleben kann. Wir wohnten als Deutsche die letzten zwei Kriegsjahre in der Nähe von Auschwitz, wo wir so einiges erlebt haben. Das grausamste Erlebnis war jedoch, als meine Mutter und ich (6 ½ Jahre) auf der Straße Richtung Auschwitz gingen und wieder einmal ein Lastwagen vorbeifuhr, auf dem schon schreiende Menschen waren. Vor uns ging eine jüdische Mutter (erkennbar am sogenannten Judenstern) mit zwei Kleinkindern in einem Leiterwägelchen. Der Lastwagen hielt, ein SS-Mann stieg aus, riss die zwei Kinder aus dem Wägelchen und warf diese einfach so auf den Lastwagen. Die Mutter der Kinder wurde auf der Stelle wahnsinnig.

Meine Mutter und ich redeten jahrelang über dieses traumatische Ereignis, um es irgendwie zu verarbeiten. Gelungen ist das bei mir heute noch nicht.

Edeltraud Schelle, Oberau

© SZ vom 21.02.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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