Mittelschicht:Das ganze Bild zeigen

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Lohnbezieher bis 70 000 Euro tragen das Gros der Sozialabgaben, teilte das Arbeitsministerium mit. Zur Finanzierung des Sozialstaats ist dies nur die halbe Miete, stellt ein Leser klar, über Steuern zahlen auch Besserverdiener mit.

Ab wann zählt man zur Mittelschicht? Für viele nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch der Perspektive: Gebäudereiniger auf einem Glasdach in Frankfurt (Foto: Arne Dedert / picture alliance / dpa)

Zu " Geringverdiener und Mittelschicht füllen Sozialkassen" vom 3. Februar:

Im zweiten Satz des Artikels wird festgestellt, diese Gruppe finanziere den Hauptteil des deutschen Sozialstaats. Gemeint sind aber lediglich die Sozialversicherungen Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Leistungen des Sozialstaates über Steuergelder gehen jedoch bei Weitem darüber hinaus. Die beitragsbezogene Renten- und Arbeitslosenversicherung sind keine Sozialleistung, sondern bauen Ansprüche durch Beiträge auf. Je höher die Beitragsbemessungsgrenze, desto mehr Ansprüche und Ausgaben entstehen. Dies gilt für alle Einkommensgruppen. Auch die Krankenversicherung ist keine Sozialleistung. Die Versicherungsbeiträge sind bis zur Bemessungsgrenze einkommensabhängig. So enthält die gesetzliche (nicht die private) Krankenversicherung bereits einen sozialen Ausgleich.

Der Artikel plädiert für Erhöhungen der Beitragsbemessungsgrenzen, Steuersenkungen für Geringverdiener und Steuererhöhungen für sogenannte Topverdiener. Zahlen werden aber nur für Sozialversicherungen genannt, nicht für Steuerbelastungen! Wer jetzt Beitragsbemessungsgrenzen anheben möchte, erhöht in exakt gleicher Höhe Rentenansprüche und Ansprüche auf Arbeitslosengeld. Bei der Krankenversicherung besteht die Gefahr des Wechsels in die gegebenenfalls günstigere Private Krankenversicherung ohne sozialen Ausgleich. Damit wird aber niemand entlastet. Die sogenannte Mittelschicht überschreitet nach den angegebenen zu versteuernden Einkünften von 70 000 Euro bereits alle Beitragsbemessungsgrenzen oder ist zumindest Grenzsurfer. Auch diese würde durch höhere Beitragsbemessungsgrenzen noch stärker belastet anstatt entlastet.

Die Finanzierung des Sozialstaates erfordert den Einbezug von Sozialversicherungen und Steuern. Der Artikel liefert lediglich Zahlen für die Belastung durch Beiträge zur Sozialversicherung. Wer Sozialkassen und Steuern reformieren möchte, sollte die skizzierten Gesamtzusammenhänge von Sozialkassen und Steuern für einen gesellschaftlichen Ausgleich einbeziehen.

Dr. Wolfgang Hummel, München

Gegen den Ausdruck "Leistungsträger der Gesellschaft", der exklusiv auf Gutverdienende gemünzt wird, möchte ich mich verwahren. Es sollte zu den soziologischen Grundeinsichten gehören, dass wir alle - Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Paketboten - teils mit harter körperlicher Leistung zu dieser Gesellschaft beitragen. Der ausgrenzende und für fast alle Bürger trotz Schufterei abwertende Leistungsträger-Begriff entspringt ideologischem Marktdenken. Es wäre an der Zeit, dass sich solche Einsicht neben angemessener Rhetorik in gleichmäßigerer Bezahlung widerspiegelt. In dem Sinn: gerne eine Steuerentlastung nur für "Geringverdienende" - die wahre Mittelschicht.

Dr. Tim Wihl, Berlin

© SZ vom 19.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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