Impfskepsis:Kein gemeinsamer Nenner in Sicht

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Achtsamkeit ist eine Tugend, die in extremster Form ins Asoziale umschlagen kann. Darauf basiert der Zwiespalt zwischen Impfskeptikern und -willigen. Kümmern wir uns zu viel um uns selbst?

Zu "Im Einklang mit mir, nicht mit dir" vom 26. November und "Impfen wie in Bremen" vom 6. Dezember:

Ein Impf-Theater

Das Feuilleton einer Zeitung ist nicht der Ort für Fakten oder Statistiken. Die wissenschaftliche Wahrheit weicht dort der Wahrheit der Bühne. Als doppelt geimpfte und boosterwillige Leserin fasziniert mich das feuilletonistisch beschriebene Corona-Stück. Vorhang auf für das Impf-Theater. Die Bühne betritt nicht etwa ein "fauler, dummer, egozentrischer oder zu achtsamer" impfskeptischer Arzt, der gar nicht so selten vorkommt. Nein, die Bühne betritt eine tierliebende Architektin mit verqueren, aber auch nicht seltenen Ansichten.

Danach sucht die "sonst kluge" Seite nach öffentlich wirksamen Beispielen für die zu egozentrischen und zu achtsamen Skeptiker wie den "sonst klugen" Fußballspieler, die "sonst kluge" Philosophin und den "sonst klugen" Bestsellerautor, um die Haltung von Menschen, die gegenüber Gentechnik, und ganz besonders "genetischen Impfstoffen", Vorbehalte haben, in Richtung egozentrischen Starrsinn, selbstgefälligen Zweifel, Bequemlichkeit, Querdenkerei, Esoterik und Alpenmilieu schieben zu können - alle "sonst klug", aber laut SZ dann nicht, wenn sie sich gegen eine Impfung mit mRNA entscheiden.

Dass sie und andere vielleicht nur verzweifelt auf einen althergebrachten Totimpfstoff hoffen und mehr Angst um ihre mit "genetischen Impfstoffen" durchgeimpften, nur leider ganz und gar nicht immunisierten Angehörigen haben, die wiederum Angst um die ungeimpften Angehörigen haben, denen schwere Erkrankungen drohen, wenn sie sich von den leicht und unsichtbar erkrankten Geimpften, deren Zahl von Woche zu Woche steigt, angesteckt haben. Wie schön, wenn das Drama nur um allgemeine Impfpflicht ginge und nicht um den einzigen, aus der Menge der weltweiten Impfstoffe ausgewählten "genetischen Impfstoff".

Akt II erzählt dann vom Glauben der fitten Jungen an die Statistik, der mit Einzelfall-Erzählung von Intensivmedizinern begegnet wird. Die Wirklichkeit des Scheidungsanwalts sind zerbrochene Ehen, die Wirklichkeit des Intensivmediziners sind sterbende Menschen - und ja, er sieht einen Unterschied in den schweren Fällen, so wie die heutige RKI-Statistik zeigt, dass mehr als die Hälfte der "Verstorbenen symptomatischen Covid-19-Fälle" der über 60-jährigen Impfdurchbrüche sind, Menschen also, denen noch vor einigen Monaten vorgegaukelt wurde, der volle Impfschutz nach der zweiten Impfung biete 97-prozentigen Schutz.

"Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?" Was genau sollen die der Impfung nicht trauenden Menschen denn kapieren? Dass das "je eigene Besonderssein" nichts zählt, wenn es um allgemeines "genetisches Impfen" geht, aber dem SZ Feuilleton durchaus dazu dient, die Entscheidung eines fitten, jungen Mannes mit einem "Intensivkrankenbett" zu erschüttern? "Die einen denken zu wenig. Manche aber zu viel. Nämlich über sich nach" - sagt Gerhard Matzig, der leider keinem auf der Bühne Raum gibt, der versucht, gleich viel über das rechthaberische Verlangen nach Durchimpfung der Ungeimpften nachzudenken, wie über das mit Schuld- und Unsolidaritätsvorwürfen beworfene Verlangen nach Selbstbestimmung bei der Anwendung "genetische Impfstoffe". Das aktuelle Impf-Theater ist ein "Zivilisationsbruch, der auf einem übersteigerten Hang zum Gesunden basiert" - nur ist nicht nur die Impfverweigerung "irgendwie krank", die Impferzwingung ist es auch.

Gabi Baderschneider, Sinzing

Therapeutische Achtsamkeit

Gerhard Matzigs Beobachtung, dass das Ziel der "Achtsamkeit" oft zur egozentrischen Selbstbeschäftigung degeneriert, führt mich zu einem weiteren Gedanken: Die exzessive und rücksichtslose Fixierung auf sich selbst ist typisch für Psychotherapie-Patientinnen und Patienten - und hier auch notwendig. Wer sein Leben lang nicht oder zu wenig an sich gedacht und auf sich geachtet hat, darf und muss im geschützten und zeitlich begrenzten Raum der Therapie erst einmal ganz egoistisch sein und das Ich radikal in den Mittelpunkt des eigenen Denkens und Fühlens stellen.

Wenn aber diese Selbstfixierung auf Dauer gestellt wird, also den Bereich der Therapie verlässt und zur Lebenshaltung wird, mit der man der Gesellschaft begegnet (beziehungsweise den Rücken zukehrt), dann stimmt etwas nicht. Sind wir vielleicht in Teilen zu einer supertherapeutischen Gesellschaft geworden, in der jede und jeder sich in die Rolle des (empfindlichen) Patienten zurückzieht, dem man auch beim größten Unsinn bloß nicht widersprechen darf, um ihn nicht zu verletzen?

Das Verständnis für psychisch Kranke ist notwendig und zum Glück in den letzten Jahren gewachsen. Das sollte aber nicht bedeuten, dass der achtsame (und egozentrische) Therapiemodus zum gesellschaftlichen Normalzustand wird.

Oliver Domzalski, Hamburg

Schuld ist die Politik

Es ist naiv zu glauben, an dieser Situation sind die Ungeimpften Schuld. In erster Linie ist es ein Versagen der Politiker. In den Pflegeberufen herrscht ein eklatanter Notstand, ganze Abteilungen sind geschlossen, weil Personal fehlt, ähnliches gilt auch für die Pflegeheime und die Regierung ist tatenlos und unfähig zu handeln, nach nunmehr bald zwei Jahren. Das Versagen wird auf die Bürger abgewälzt. Was für eine Schande. Das einzige, was die Politiker geschafft haben, ist einen Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften zu ziehen, der immer noch größer wird.

Ach ja, bevor meine Mutter geimpft wurde, war sie Selbstversorgerin, seit sie geimpft ist, ist sie im Pflegeheim. Aber das ist nicht so wichtig. Hauptsache geimpft. Irgendwie krank? Wie kann man so respektlos mit Zitaten und vorgefertigten Meinungen umgehen? Und natürlich, wir sind aus Baden-Württemberg.

Ralf Ginter, Esslingen

Ungeimpfte aufklären

Ein Satz hat mich elektrisiert: "Bremen hat sich angeschaut, wo die Infektionen besonders in die Höhe schießen und Teams zur Aufklärung dorthin geschickt."

Müssten diese Aufgabe nicht unsere demokratisch gewählten Politiker übernehmen? Zu unserer repräsentativen Demokratie gehört doch, dass die gewählten Volksvertreter sich engagieren und die Ungeimpften aufklären - und zwar ohne expliziten Auftrag und ohne Honorar! Schließlich sind ihre geimpften Wähler deutlich in der Mehrheit. Es reicht nicht, sich alle vier Jahre vor den Wahlen in Erinnerung zu bringen. Wie die Erfahrung seit Beginn der Pandemie zeigt, reicht es auch nicht, Meinungen und Argumente in Medien zu platzieren. Ob bei den Ungeimpften Ängste, falsche und verdrehte Informationen oder schlicht das oft zitierte "Ich hab keine Angst" ausschlaggebend sind, lässt sich bestimmt im persönlichen Gespräch klären - wenn auch nicht bei einem einzigen Treffen ausräumen.

Eigentlich müssten doch die Abgeordneten am meisten daran interessiert sein, "dass sich nicht noch mehr Leute gegen die Demokratie in Stellung bringen". Schließlich baut sich auch bei den geimpften Familien Frust auf. Wenn zum Beispiel von dreißig Schülern zwanzig nach einem kurzen Aufenthalt im Schullandheim mit Corona infiziert zurück kommen.

Die freie Entscheidung jedes einzelnen wird immer wieder angeführt, weshalb es keine Nachteile für Ungeimpfte geben darf. Aber wie ist es im Straßenverkehr, wo sich manche die Freiheit nehmen, auf der Gegenfahrbahn als Geisterfahrer unterwegs zu sein. Haben sie auch den Anspruch, nicht durch Geldstrafe oder Führerscheinentzug benachteiligt zu werden?

Matthias Nauerth, München

© SZ vom 30.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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