Freiheit versus Sicherheit:Wie weit sollen wir gehen?

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Wie viel Freiheit wollen wir in dieser Pandemie für die Sicherheit aufgeben? Ein Leitartikel dazu hat viele Reaktionen hervorgerufen. Einige nennen die Abwägung unpassend, gar zynisch. Andere begrüßen, dass die Frage Raum findet in der SZ.

SZ-Zeichnung: Karin Mihm (Foto: N/A)

Zu " Freiheit", 31. Dezember/1. Januar:

Freiheit heißt auch leben dürfen

Sind wir wirklich gezwungen, ein Ranking der höchsten Werte zu veranstalten: Menschenwürde gegen Leben? Auch nach diesem durchaus sehr durchdachten Leitartikel, der in vielem Zustimmung verdient, in manchem Kritik herausfordert, bleibt die Aporie: Wir wollen kein Leben ohne Menschenwürde - aber Würde ohne Menschenleben? Die Antwort wird in einer vom Virus heimgesuchten Familie anders ausfallen als auf dem Stuhl des Bundestagspräsidenten oder dem des Leitartiklers. Wenn dieser für 2021 wünscht, es solle "auch die Freiheit zu ihrem Recht kommen" - der Freiheit wurde und wird kein Unrecht angetan, wenn sie auch als Freiheit verstanden und gestaltet wird, dass Menschen leben dürfen.

Peter Maicher, Zorneding

Was investieren wir?

Herr Ulrich sieht in seinem Leitartikel die Freiheit der Bürger in Gefahr und fordert unter anderem, die "Gesellschaft müsse entscheiden, welchen Kurs sie wählt zwischen Freiheit und Sicherheit". An anderer Stelle ist zu lesen, wie einerseits beeindruckend, aber auch "erschreckend" sich viele Menschen den neuen Zwängen "unterwerfen". Aber was bedeutet denn Freiheit für den Einzelnen, ist das nicht schon eine philosophische Betrachtung? Gibt es überhaupt eine echte Freiheit?

Bei den Diskussionen rund um die Corona-Einschränkungen und auch bei anderen Themen (Tempolimit, CO₂-Verbrauch etc.) könnte man meinen, Freiheit bedeutet, für sich so viel an persönlichem Profit herauszuholen, wie nur irgend möglich ist. Tun und lassen, was man will. Freie Fahrt für freie Bürger. Freiheit sozusagen quantitativ bemessen. Okay, die Gedanken sind frei, es gibt Mitbürger, die nach dieser Devise leben. Aber ist dann umgekehrt jemand, der sich bewusst und aus freien Stücken für Verzicht oder Reduktion entscheidet (kein Auto, weniger Fleisch, Kontaktbeschränkungen wegen Corona, etc.) deswegen ein Lo ser oder staatshöriger Bückling?

Wenn Menschen sich nicht aus Spaß, sondern aus Überzeugung befristet (!) an die Einschränkungen halten, warum soll das denn Freiheitsberaubung sein? Anders betrachtet, warum gibt es denn die Fastenzeit? Oder die aktuellen Trends zum Minimalismus, die ein gutes Gefühl versprechen? Einer Debatte zur Freiheit in unserer Gesellschaft stimme ich absolut zu, aber es muss geklärt werden, was der Einzelne darunter versteht und was er bereit ist, dafür zu investieren oder abzugeben.

Cornelia Priller, München

Abwägung ist zynisch

Das Ausspielen von Menschenwürde und Freiheit gegen das Leben zeugt von einer beispiellosen Verrohung des Denkens. Die Äußerung "Oberster Wert der Bundesrepublik ist nicht das Leben, sondern die Menschenwürde. Zu ihr gehört die Freiheit" - Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble nachgesprochen - besagt: Ihr dreißigtausend Corona-Toten habt es gut: "Ihr lebtet in Menschenwürde und Freiheit. Dass ihr euer Leben verloren habt, weil Regierung und Staat die Seuche nicht in den Griff bekommen, ist nicht weiter schlimm. Das Leben ist sowieso nicht der oberste Wert unseres Staates." Zynischer geht's nicht mehr.

Prof. Dr. Rüdiger Scholz, Freiburg

Leben ist nicht verhandelbar

Die im Artikel vorgestellte Gedankenwelt ist zum Teil generell, zum Teil bezogen auf die Corona-Pandemie auf eine Weise undifferenziert: "Oberster Wert (der Bundesrepublik) ist nicht das Leben, sondern die Menschwürde." Eine eigentümliche Botschaft. Ein Leben ist nicht verhandelbar. Jeder, der einmal tief um einen Menschen geweint hat, wird mir zustimmen.

Menschenleben und Menschenwürde sind ohnehin keine Gegenpole, die man abwägen müsste, sie sind im Grunde nicht voneinander zu trennen. Das menschliche Leben in Würde bleibt der oberste Wert.

Auch die Argumentation zur "Freiheit der Bürger" in der Virus-Pandemie ist eigentümlich, um nicht zu sagen falsch. Das Virus lacht über diese Gedankenwelt. Die einzige Möglichkeit, in Abwesenheit von Impfstoff und Medikamenten dessen Herr zu werden, ist Kontaktvermeidung, ist die vorübergehende, harte Einschränkung von Freiheiten von Seiten des Staates, denn der Mensch schafft dies nicht von sich aus. Nur diese Einschränkung garantiert aber Schutz vor schwerer Erkrankung und Tod, den höchsten Einschränkungen der Freiheit überhaupt. Sie garantiert auch ein weitgehend "normales" Leben mit dem Virus, sie sorgt für eine gedeihende Wirtschaft, für Schulöffnungen, Kulturmöglichkeiten etc.

Die Wissenschaft hat uns das ganz früh gesagt. Aus verschiedenen Gründen haben es die Regierenden nicht durchgeführt, aber keiner kann sich herausreden, er hätte es nicht wissen können. Dieser scheinbare Widersinn, dass die vorübergehende harte Einschränkung der "Freiheit" Freiheiten erst garantiert, ist für manchen neu und schwer zu verstehen, ist auf eine Weise eine pandemische Ironie.

Und nein, die Mehrheit in unserer Gesellschaft fügt sich nicht "leicht in den Verlust von Freiheiten" in der Corona-Pandemie, aber sie hat begriffen, dass das Virus sie verursacht und nicht die Regierung, und sie hat auch begriffen, dass unsere Regierenden die Einschränkungen mit Ende der Pandemie zurücknehmen werden. Nichts werden sie lieber tun als dies.

Prof. Dr. med. Gerd R. Pape, Berg

Sorge vor autoritärem Staat

Wir als Familie verhalten uns all die Pandemie-Zeit über aus Gründen der Vernunft und Solidarität (vielleicht auch aus Angst) entsprechend vorsichtig und regeltreu. Mich beschäftigt jedoch seit März sehr stark, dass alle Gedanken an Freiheit und Alternativen in der Pandemiebekämpfung (siehe zum Beispiel Denker wie Juli Zeh, Hans-Ulrich Papier, Julian Nida-Rümelin) kaum Raum in den Medien fanden beziehungsweise einige zum Teil sogar diffamiert wurden. Vor diesem Hintergrund gibt mir der Leitartikel von Herrn Ulrich etwas Hoffnung. Ich möchte wirklich keinen Autoritätsstaat in Deutschland und befürchte, mancher unserer Exekutiv-Politiker gefällt sich sehr wohl in seiner Rolle als wohltätiger alleinbestimmender Herrscher. Souverän muss das Volk (vertreten durch die Parlamente) sein und nicht der, "der über den Ausnahmezustand entscheidet"!

Marlene Neumann, München

Jung und Alt sind gleich viel wert

Stefan Ulrich hat recht damit, dass die Vermeidung jeglicher Gefährdung von Menschenleben nicht grundsätzlich Vorrang vor dem Grundrecht auf Freiheit haben kann. Jedoch geht es beim Corona-Dilemma nicht um die Verabsolutierung von Menschenleben, sondern um das für alle Menschen gleiche Recht auf Leben als wesentliche Determinante der Menschenwürde und unabdingbare Voraussetzung für das Recht auf Freiheit. Daher greifen die genannten Beispiele der durch Straßenverkehr und Luftverschmutzung verursachten Todesfälle nicht, denn diese Risiken betreffen (zumindest gefühlt) alle gleichmäßig und ließen sich (zumindest theoretisch) durch das Individuum selbst durch weitgehenden Verzicht auf aktive Teilnahme am Straßenverkehr oder Umsiedelung in Gebiete mit geringer Luftverschmutzung minimieren.

Anders beim Covid-Risiko: Dies betrifft überwiegend alte und pflegebedürftige Menschen, und gerade diese haben besonders wenig Möglichkeiten, aktiv auf ihr persönliches Risiko Einfluss zu nehmen. In der Konsequenz würde der Verzicht auf die teils eingreifenden Regularien zur Ausbreitungsvermeidung bedeuten, dass man diesen großen Personenkreis mit unverhältnismäßig hohem Sterberisiko seinem Schicksal überlässt und somit dessen Recht auf Leben geringer schätzt als das der jüngeren und gesünderen Mitmenschen. Das hätte sehr weitreichende Implikationen für die Menschenwürde.

Es geht also primär nicht darum, Freiheitseinschränkungen gegen die Zahl erhaltener Menschleben aufzurechnen, sondern darum, das essenzielle Prinzip des gleichen Wertes eines jeden Menschenlebens bei möglichst geringer Einschränkung der gewohnten gesellschaftlichen Freiheiten zu bewahren. Diese stete Abwägung ist die Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Peter Dreger, Heidelberg

© SZ vom 16.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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