Fall Sami A.:Ein unfassbarer Vorgang

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Der mutmaßliche Gefährder Sami A. wurde entgegen einer gerichtlichen Anordnung nach Tunesien abgeschoben. Nun soll er wieder zurückgeholt werden. Leser sehen die Rollen von Politik und Justiz in diesem Fall mit kritischem Blick.

Gerichte und Politik stehen im Fall Sami A. gleichermaßen in der Kritik: Statue der Justitia in Frankfurt. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

" Im Fall Sami A. stillgehalten" vom 25./26. August und " Bescheuert?" vom 17. August:

Minister gegen den Rechtsstaat

Der "Fall Sami A." ist nicht länger nur ein Fall Sami A. Er ist, was schwerer wiegt, mittlerweile vor allem ein Fall Stamp-Reul-Laschet. Aus der Führungsebene des Ministeriums Joachim Stamp (Integrationsminister) ergeht die Anweisung, das mit Sami A. befasste Gericht mit Halbwahrheiten zu täuschen, es auszutricksen. Bei nüchterner Betrachtung ein in einem Rechtsstaat unfassbarer Vorgang. Und nachdem dies auffliegt, rät Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul den Gerichten, sich statt an Recht und Gesetz am "Rechtsgefühl der Bevölkerung", das heißt nichts anderes als dem zuvor gepushten sogenannten gesunden Volksempfinden, zu orientieren. Käme das von NPD oder AfD, man wäre dran gewöhnt. Es stammt allerdings von dem für Recht und Ordnung zuständigen Minister eines Bundeslands.

Beide Herren haben ein Problem mit dem Rechtsstaat. Sie stehen ersichtlich nicht auf dem Boden der Verfassung und sind aus dem Amt zu entfernen und zu beobachten. Dies erlitten zu Zeiten des sogenannten Radikalenerlasses viele aufrechte Menschen für weit Geringeres. Stamp und Reul mögen als Minister unter Erdoğan, Orbán oder in Polen taugen, in einem Rechtsstaat sind sie unerträglich. Laschet deckt dies. Für ihn gilt nichts anderes.

Rechtswidrige Abschiebung ist Entführung. Bei Inkaufnahme der Rechtswidrigkeit strafbare Freiheitsberaubung im qualifizierten Fall. Die Staatsanwaltschaft mag ermitteln.

Carl W. Heydenreich, Bonn

Die Justiz hat überzogen

Da können noch so viele prinzipienfeste Statements und eherne Grundsätze für den Rechtsstaat beschworen werden: Im Fall Sami A. hat die Justiz überzogen. Auch Richter sind Menschen, und in diesem Fall haben sie ihr Spielchen getrieben mit Terminen. Für viel bedenklicher halte ich das Hantieren von Richtern mit der Folter, die angeblich droht und mit einer Abschiebung nicht riskiert werden darf. Damit hebeln sie alle Gesetze aus, wenn sie wollen. Und dieses Wollen oder nicht zeigt dann wieder ganz nackt den Menschen im Richter und seine Meinung.

Klaus Klamroth, Neckargemünd

Verwahrloste Rechtskultur

Die Vorgänge um die rechtswidrige Abschiebung von Sami A. sind symptomatisch für eine fortschreitende Verwahrlosung auch unserer Rechtskultur in Deutschland, was insbesondere das Verhalten der NRW-Landesregierung offenlegt. Geradezu gebetsmühlenhaft wird von den Betroffenen scheinheilig zugegeben, bei der Abschiebung seien Fehler gemacht worden, ohne die substanziellen Fehler zu benennen, und gesagt, die Gerichtsentscheidungen würden selbstverständlich akzeptiert. Gleichzeitig wird jedoch herausgestellt, dass die Entscheidungen falsch seien, da sie auch dem Rechtsempfinden der Bevölkerung widersprechen würden und es deshalb auch notwendig sei, Tatbestandsmerkmale wie "Folter" der richterlichen Kontrolle zu entziehen und die Festellung, ob in einem Land gefoltert werde, den Abschiebebehörden zu überlassen. Damit wird ohne viel Federlesens die Axt an den Rechtsstaat, nämlich die Gewaltenteilung, gelegt.

Zwar ist nicht nur zulässig, sondern auch in zahlreichen Fällen geboten, an gerichtlichen Entscheidungen, was ich auch als Richter manchmal leidvoll erdulden musste, Kritik zu üben, aber bei der Abschiebungsdebatte wird die inhaltliche Kritik, auch die demagogische Äußerung des Innenministers vom gesunden Rechtsempfinden, bewusst dazu benutzt, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, als die Behörden auf Weisung der Regierung von NRW die richterliche Gewalt durch lügenhaftes Verschweigen daran hinderten, ihren grundgesetzlichen Aufgaben nachzugehen, nämlich Rechtsschutz zu gewähren. Und das ist der Skandal. Anstatt sich vor die entscheidungsberufenen Verwaltungsgerichte in NRW zu stellen und die Öffentlichkeit über die Vorgänge aufzuklären und die rechtsstaatlichen Grundsätze unserer Verfassung herauszustellen, wird von höchster exekutiver Seite die weitverbreitete Stimmung gegen Ausländer ausgenutzt, um parteipolitisch dieser Stimmung nachzugeben und dabei in Kauf zu nehmen, dass der Rechtsstaat zerbröselt. Dazu gehört auch, dass der Landesjustizminister schweigt. Erdoğan und Trump lassen grüßen.

Dietmar Reitzel, Stuttgart

Die AfD lacht sich ins Fäustchen

Der Rechtsstaat ist ein hohes Gut. Wer wüsste das besser als wir Deutsche mit unseren schrecklichen Erfahrungen mit totalitären Staatsformen. Aber manchmal könnte man daran verzweifeln. Anstatt die Unstimmigkeiten bei der begrüßenswerten Abschiebung eines potenziellen Terroristen auf dem kurzen Dienstweg auszuräumen, inszenieren die beteiligten Behörden einen ebenso rechthaberischen wie peinlichen öffentlichen Machtkampf zwischen Justiz und Verwaltung. Wie will man Nichtjuristen dieses Steuergelder verschwendende Advokatengezänk plausibel machen, das sich nicht mehr um Sach-, sondern nur noch um Verfahrensfragen dreht? Gauland, Weidel und Konsorten können sich ins Fäustchen lachen. Effizienter als die Staatsorgane im Fall Sami A. könnten sie die Wähler der AfD nicht zutreiben.

Dr. Helmut Neuberger, Ostermünchen

Alles Auslegungssache

Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp räumt im Fall der Abschiebung des terrorvernetzten Sami A. Fehler ein. Das ist lobenswert und kann man von einem Politiker erwarten, wenn er das so sieht. Anders verhält sich das mit den Gerichten. Fehler kommen hier wohl nicht vor. Jeder halbwegs am Recht Interessierte weiß aber, dass Gesetze ausgelegt werden müssen. Dafür hat man ja Richter. Sonst bräuchte man ja keine. Und "Auslegungen" sind naturgemäß "Ermessenssache". Und da gibt es halt auch manchmal (hoffentlich nicht zu oft!) fragwürdige Ergebnisse. Fragwürdig ist für mich - ohne das sogenannte und historisch belastete "gesunde Volksempfinden" zu berücksichtigen -, ob Richter im Fall Sami A. ihre Offensive gegen politisch Handelnde zu einem Machtkampf zwischen Politik und Rechtsinstitutionen hochstilisieren mussten, wohlwissend, dass die breite Öffentlichkeit mit ihrer nicht ganz unbe"recht"igten Angst vor Terror à la Osama bin Laden kaum Verständnis für ihr Beharren auf Rückführung haben kann. Sami A. läuft dann wieder hier als Gefährder frei herum, ein Zustand, dem die Richter offensichtlich wenig entgegensetzen können. Das bleibt dann wieder Sache der Politiker.

Man hat oft das Gefühl, dass Richter hierzulande unantastbar sind und grundsätzlich die Aussage "Irren ist menschlich" für sie nicht gilt. Götter in schwarzen, bzw. weinroten Roben! Das Problem: Falsch handelnde Politiker kann man abwählen, Richter nicht. Wer schützt uns eigentlich vor Richtern?

Dr. Günter Kopp, München

Es gibt Wichtigeres

"Sami A. muss zurückgeholt werden" vom 16. August: Hiermit möchte ich Ihnen meinen Unmut über obigen Artikel mitteilen. Die SZ ist mir bis dato eigentlich nicht als Schlagzeilen machende Tageszeitung bekannt. Mir scheint, als wäre der Redaktion das Gefühl für Verhältnismäßigkeiten verloren gegangen. Was ist dieser Fall Sami A. unter Tausenden von anderen Fällen? Mitnichten wird dieser Fall unser Rechtssystem ins Wanken bringen. Was er allerdings aufs Neue erschüttern wird, und dies mit Ihrer tätlichen Mithilfe, ist der soziale Friede in unserem Land. Bitte bringen Sie zukünftig mehr von unseren gewichtigeren Problemen auf die Titelseite: Bildung, Wohnen, Rente, Wasserverschmutzung, fehlendes Einwanderungsgesetz usw., usw.

Wolfgang Ulbricht, München

© SZ vom 06.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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