Fachkräftemangel und Zuwanderung:Scheinlösung mit Folgeproblemen

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Der Vorschlag des Arbeitsagentur-Chefs, jährlich 400 000 Fachkräfte ins Land zu holen, stößt auf beträchliche Skepsis. Gegenvorschläge der Leser: Vorhandene Kräfte sinnvoller einsetzen - und nicht auf Kosten anderer Länder leben.

SZ-Karikatur: Karin Mihm (Foto: Karin Mihm)

"Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr" vom 24. August und "Wenn Bewerbungen sofort aussortiert werden" vom 25. August:

Arbeits-Kolonialismus

Ja, ist das so? Ist das nicht eine neue Form des Kolonialismus? Früher haben die Europäer andere Kontinente besetzt, um günstig an deren Rohstoffe zu kommen, und deren Bevölkerung dort ausgebeutet oder gar versklavt, heute nützen wir die bedauerliche Not, die politische und/oder wirtschaftliche Lage in anderen Ländern aus, um unsere Probleme zu lösen. Klar ist, dass wir in beiderseitigem Interesse all die integrieren, beschäftigen, unterbringen und ernähren, die sowieso da sind oder aus Angst vor Unterdrückung, Krieg, Terror, Verfolgung et cetera sowieso kommen.

Aber gegebenenfalls darüber hinaus noch weitere anwerben, sodass wir auf 400 000 pro Jahr kommen? Werden in diesen Ländern keine Arbeits- und Fachkräfte benötigt? Muss dort niemand als Kranker oder Gebrechlicher geheilt oder gepflegt werden? Wo wollen wir alle unterbringen, die letzten freien Flächen zubauen, die Städte mit Hochhäusern zustellen? Werden unsere Probleme damit wirklich gelöst - oder nur die Lösung verschoben? Auch die Zuwanderer werden irgendwann krank oder alt und wollen gepflegt werden und Rente bekommen. Was ist so schlimm daran, wenn die Bevölkerungszahl in Deutschland langfristig etwas abnimmt? Deutschland hat auch schon mit wesentlich weniger Bewohnern existiert.

Wir müssen endlich davon wegkommen, den Arbeitgebern das Leben durch die Ausnutzung des Lohngefälles zu anderen Ländern zu erleichtern, und müssen auf allen Gebieten die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass sich einigermaßen ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage einstellt. Klar ist, dass das dann auch bezahlt werden muss, zum Beispiel über höhere Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherungen oder höhere Preise bei Produkten. Das wiederum würde ausländische Anbieter stärken, die dann vielleicht Arbeitskräfte im Land halten können.

Andreas Renner, München

Recht des Stärkeren

Detlef Scheele fordert, dass Deutschland sich auf den Arbeitsmärkten anderer Länder bedient. Diese Politik ist nicht neu, erstaunlicherweise wird sie kaum infrage gestellt. Es gilt offenbar das Recht des Stärkeren. Was ist aber mit den desaströsen Folgen für die Länder, aus denen diese Arbeitskräfte kommen sollen und die teilweise schon seit Jahren unter dem Exodus von jungen, teils qualifizierten Menschen leiden? Die SZ-Redakteure sorgen sich allenfalls um ein Wiederaufflammen von Xenophobie hierzulande. So als gehe es hier in erster Linie um Gastfreundschaft. Ein Beispiel für Arbeitsmigration: Jüngst hat ein Gerichtsurteil kurz den Blick der Medien auf die Situation von Pflegekräften aus Südosteuropa gelenkt, die im 24-Stunden-Dienst Pflegebedürftige versorgen und monatelang von ihren Familien getrennt oder gar von jeglichem sozialen Leben abgeschlossen sind. Solche ausbeuterischen Verhältnisse sind aufgrund der massiven Einkommensunterschiede in der EU möglich. Sie werden geduldet, um unseren Wohlstand zu sichern, denn offensichtlich sind die Deutschen nicht bereit, die wahren Kosten der häuslichen Pflege zu tragen. Nach weiteren Beispielen muss man nicht lange suchen: Fleischproduktion, Krankenhäuser, Altenheime, Gebäudereinigung und so weiter.

Volker Eckert, Essen

Falscher Ansatz

"Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus", sagte der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Detlef Scheele, der Süddeutschen Zeitung. "Von der Pflege über Klimatechniker bis zu Logistikern und Akademikerinnen: Es werden überall Fachkräfte fehlen." Deutschland kann das Problem nur lösen durch einige interne Maßnahmen - "und vor allem, indem es Zuwanderer ins Land holt". Das wird mit der Überschrift "Wir brauchen 400 000 Zuwanderer pro Jahr" kundgetan. Die Arbeitslosenzahl im Durchschnitt des laufenden Jahres 2021 beträgt 2 760 000; das sind sechs Prozent (laut Statista). Sollte die Bundesregierung dem Ansinnen von Herrn Scheele nachkommen, besetzen in sieben Jahren (sieben mal 400 000) 2 800 000 Zuwanderer die ansonsten freien Stellen. Da sie nicht den Status "Gastarbeiter" haben, sondern "Zuwanderer" sind, ist deren Familiennachzug numerisch mit einzubeziehen. Was meldet wohl die Statistik des Jahres 2028 zur Arbeitslosenzahl und zur Arbeitslosenquote? - Herr Scheele, ist Ihre Idee wirklich eine erfolgversprechende Lösung oder ist da nicht der Hebel an einer anderen Stelle anzusetzen?

Michael Mieslinger, Eichenau

Besinnen aufs Notwendige

400 000 Zuwanderer brauchen 400 000 zusätzliche Wohnungen, zusätzliche Infrastruktur, etwa Schulen für ihre Kinder und so weiter. Das wird den akut bestehenden Mangel daran deutlich verschärfen. Woher soll zum Beispiel das Bauland und -material kommen? Sicher brauchen wir vor allem qualifizierte Arbeitskräfte, um unser Wohnen, Mobilität, Hygiene, eben unsere High-End-Zivilisation am Laufen zu halten. Wir leisten uns aber auch den Luxus, neue überflüssige Tätigkeiten und Beschäftigungen zu erfinden und zu entwickeln, die für diese Versorgungen keinen Beitrag leisten. Aber in diese "überflüssigen Betüdelungen" wandern hier lebende Arbeitskräfte ab. So entsteht ein künstlicher Mangel an Arbeitskräften für die wichtige Erhaltung unserer Infrastruktur.

Der Vorsitzende der Agentur für Arbeit schreibt den Wahn der Wachstumsökonomie der vergangenen 70 Jahre ohne Abstriche fort und will die existierenden Probleme der Verdichtung damit weiter verschärfen. Der Mann ist fehl am Platze. Wir brauchen keine 400 000 Zuwanderer pro Jahr. Wir brauchen keinen weiteren Anstieg der Exportquoten unserer Industrie.

Wir könnten auf viele der Beschäftigungen verzichten, die nicht zum Erhalt unserer Infrastruktur erforderlich sind, und sie wird dennoch funktionieren. Aber wir würden uns keine neuen jährlichen Runden des Land- und Flächenfraßes für Wohnungsbau, keine Nachverdichtung unserer Städte und unseres gesamten Daseins einbrocken. Wann endlich wird ein Funktionär wie Herr Scheele begreifen, dass weniger mehr sein wird? Ein Mann von gestern.

Dr. Martin Wöhrle, Aidlingen

Alles hängt an der Sprache

Wenn sich viele der Migranten mehr Wertschätzung von Arbeitgebern wünschen, dann müssen sie, die Migranten, sich doch fragen, was die Arbeitgeber von ihnen wünschen. Oder es muss ihnen gesagt werden. Ein Installateur (oder irgendein beliebiger anderer Unternehmer) benötigt doch gute deutsche Sprachkenntnisse und Fachwissen in dieser Fachrichtung, in der er jemanden beschäftigen möchte. Vor Kurzem habe ich einen Installateur gebeten, in meinem Haus eine dringend erforderliche Arbeit zu verrichten. Wegen Arbeitskräftemangels sei frühestens in acht bis zehn Wochen ein Termin möglich. Der Migrant, der eingestellt worden war, wurde nach kurzer Zeit wieder entlassen, weil er einfach nicht verstand, was er tun sollte, und sich beim Kunden ebenfalls nicht verständigen konnte. "Wir konnten einfach nichts mit ihm anfangen."

Ich habe viele Jahre (als Berufsschullehrer) in der Berufsschule erlebt, wie sinnlos Unterricht eigentlich war, weil die Schüler aus mangelnder Sprachkenntnis weder dem Unterricht richtig folgen, noch Klassenarbeiten oder Prüfungsaufgaben bewältigen konnten. Weder mit den vermeintlich wohlwollenden Verhältnissen in der Berufsschule noch mit anonymisierten Bewerbungen wird das Problem gelöst. Ohne die Sprache geht es nicht, das muss den Migranten ganz deutlich gemacht werden, statt falsche Hoffnungen zu wecken wegen ihrer Herkunftssprache, interkultureller Kompetenz oder Anpassungsfähigkeit. Ein vermeintlich gut gemeintes, verständnisvolles, entgegenkommendes Verhalten verschiebt nur die Erkenntnis, dass in dem Land, in dem man leben und arbeiten möchte, zwingende Voraussetzung die Sprache des Landes ist.

Roland Geck, Hamburg

© SZ vom 04.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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