Elektronische Patientenakte:So wird das eher ein Datenfiasko

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(Foto: Michael Holtschulte (Illustration))

Ärztinnen und Ärzte halten Lauterbachs Projekt für unausgereift und gefährlich. Die Daten seien nicht gut nutzbar - und könnten zudem in falsche Hände geraten.

"Datenbank statt Zettelwirtschaft" und Kommentar "Gut, dass er loslegt", beides vom 10. März:

Mangelhaft und nicht ausgereift

Ich muss heftig widersprechen. Angelika Slavik glaubt , die Ärzteschaft und die Patienten müssen gezwungen werden, die elektronische Patientenakte (ePA) zu verwenden, damit sie ein Erfolg wird? Dadurch wird dieses völlig unausgegorene, schlecht durchdachte, mit gleichzeitig zu viel und zu wenig Datenschutz mangelhaft organisierte Konstrukt kein bisschen besser werden. Ja, die Digitalisierung im Gesundheitswesen hinkt hinterher. Man könnte meinen, eine elektronische Patientenakte könnte das verbessern. Könnte sie auch, aber nicht diese. Der Entwurf sieht vor, dass die Akte eine Loseblattsammlung wird, nur digital. Der Patient soll die Hoheit über seine Daten haben, das ist eine gute Idee. Es bedeutet aber, dass die Akte vollgestopft mit unnötigen Laborbefunden sein kann, die die Patientin hochgeladen hat, durch die der Notarzt einfach keine Zeit hat durchzuscrollen. Oder dass wichtige Befunde nicht enthalten sind, sodass man sich also keinesfalls darauf verlassen kann, dass der Inhalt vollständig ist, sondern sich - wie immer als Ärztin oder Arzt, als Apothekerin oder Krankenpfleger - sein eigenes Bild machen muss.

Einsicht in die Akte hätte man natürlich auch nur, wenn der Server erreichbar wäre, die Identität geklärt, die Berechtigung gecheckt und das Passwort bekannt ist.

Im Deutschland 2023 kann ich also meinen Patientinnen nur dringend dazu raten, alle wichtigen Informationen auf einem kleinen Kärtchen im Geldbeutel zu haben. Vorerkrankungen, OPs, Medikamente, Patientenverfügung, Telefonnummer vom Ehemann, der Zugriff auf die Arztbriefe hat. Das kann jede Gesundheitsfachkraft in Sekunden erfassen, die ePA kann da nicht mithalten.

Trotzdem, einfach mal loslegen, Hauptsache, ein Anfang ist gemacht? Nein. Wir haben wahrlich schon genug unausgereifte Anwendungen, wie die täglich abstürzende "Telematik" und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), die den Arztpraxen jeden Tag Mehrarbeit beschert, einfach weil das Ausstellen jeder einzelnen eAU 50 Sekunden länger dauert als das der papiergebundenen Bescheinigung.

Keine Sorge, wenn die ePA ein gutes Produkt wird, das strukturiert, datensicher und sinnvoll ist, und bei dem die Daten nicht zu "Forschungszwecken" an alle weitergegeben werden, die scharrend vor der Tür des Gesundheitsministeriums stehen, dann machen wir mit. Aber davon sind wir Lichtjahre entfernt. Sorry, Herr Lauterbach.

Dr. Yukiko Nave, Frauenärztin, Grafing

Folgenreiche Indiskretion

Die elektronische Patientenakte (ePa), die jetzt Gesundheitsminister Lauterbach bewirbt, ist genau dasselbe Modell, das auch Herr Spahn schon vergeblich versuchte einzuführen. Die Kommentatorin hat absolut recht, sie gehört ins Nirwana der deutschen Gesundheitsverwaltung. Es hat sich nämlich gar nichts an den alten Fehlern geändert.

Seit 2018 werden Ärzte per Honorarabzug gezwungen, sich an ein zentrales Datennetzwerk, die Telematik-Infrastruktur, anzuschließen. Wieso war Zwang notwendig? Weil Ärzte und Patienten keinerlei Nutzen haben. Die dafür notwendigen Konnektoren haben die Solidargemeinschaft mehrere Milliarden Euro gekostet und müssen jetzt, weil veraltet, wieder ausgetauscht werden. Erneut werden den Krankenkassen mehr als fünf Milliarden Euro abverlangt. Die Kassenbeiträge steigen.

Die Daten der ePa werden über diese Konnektoren zentral auf Servern von privaten Softwarefirmen gespeichert. "Pseudonymisiert" heißt, nur der Name fehlt - Größe, Adresse, Beruf... sind weiterhin den Diagnosen und Befunden zugeordnet. Der Bundes-Datenschutzbeauftragte Prof. Ulrich Kelber warnte im Deutschen Ärzteblatt vom 27. Mai 2022: "Dass solche Datenbanken Begehrlichkeiten wecken und die Rechte der Patientinnen und Patienten gefährden, wird gerne ignoriert. Schon heute gibt es immer wieder Datenlecks, Hackerangriffe, interne Missbräuche oder technische Pannen, durch die Unberechtigte an diese Daten gelangen." In Finnland wurden 2020 mehr als 30 000 Psychotherapie-Patienten von Hackern erpresst. Wer nicht zahlt, findet seine Behandlungsprotokolle im Internet. Betroffen waren Regierungsmitglieder, Polizisten, Schauspieler und viele mehr.

Wirklich sinnvoll wäre ein sicherer Kommunikationsdienst zwischen den verschiedenen medizinischen Akteuren. Hilfreich wären frühere Diagnosen, Medikationspläne, Allergien, Impfungen et cetera, gespeichert zum Beispiel auf dem Chip der Versichertenkarte. Das wäre herrlich einfach, kostengünstig und zweckmäßig.

Diese ePa aber bedient die Interessen von Gesundheitsindustrie und Versicherern. Es wird Risikozuschläge geben, staatliche Kontrolle, ungewollte Werbung, keine Kredite für chronisch Kranke, Ausschluss von psychisch Kranken vom Beamtenstatus und so weiter. Schon jetzt haben zum Beispiel Lehramts-Referendare Schwierigkeiten, verbeamtet zu werden, wenn sie eine Psychotherapie über die Beihilfe abgerechnet haben. Als Ärztin für Psychotherapie kann ich alle Menschen nur eindringlich vor dieser ePa warnen. Versäumen Sie nicht zu widersprechen! Auch für Ihre Kinder, sofort nach der Geburt.

Dr. med. Hildegard Fischer, München, praktische Ärztin, Psychotherapie

Ärzte als Datenlieferanten

Der Autorin ist in einem Punkt zuzustimmen: Ja, das Gesundheitswesen ist beschämend. Aber nicht wegen zu wenig, sondern wegen zu viel Technik. Seit Jahren jährlich immens steigende Kosten, unnötige Operationen, höher werdende Bundeszuschüsse. Dazu Pflege- und Ärztemangel, nicht lieferbare Medikamente, vorzeitig Sterbende durch Hitze und Luftverschmutzung. Die elektronische Patientenakte hilft bei all dem nicht. Wir haben viele ältere und oft chronisch Kranke. Genau sie sind oft nicht technikaffin.

Und: Alle Daten zentral an einem Ort - schön. Aber darauf freuen sich auch Hacker. Fast täglich kann man von Cyberangriffen und Datenlecks lesen. In etlichen Ländern sind elektronische Patientenakten bereits undicht geworden. Auch geht es längst nicht mehr um Wechselwirkungen - die anders vermieden werden können - und vermeidbare Doppeluntersuchungen - die statistisch kaum belegt und manchmal sogar erwünscht sind. Es geht um Daten. Daher auch die geplante Akten-Befüllungspflicht für Behandelnde und die automatisierte Weiterleitung an die Forschung, und das nur pseudonymisiert, und damit leicht rückverfolgbar.

Wir werden in den Praxen weiter für einen Vertrauensraum und Schweigepflicht sorgen und die undifferenzierte Digitalisierungsreligion an ihren Auswüchsen bremsen. Sichere digitale Verbindungen zwischen Behandelnden und zu Patienten wären gut - aber ohne Zwang, und ohne zentrale Datenspeicherung auf Servern und in Clouds.

Dr. Andreas Meißner, München, Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie

Falsche Strategie

In der öffentlichen Berichterstattung kommen leider entscheidende Kritikpunkte der elektronischen Patientenakte (ePA) regelmäßig zu kurz und werden in ihrer Brisanz nicht erkannt. Genannt seien nur die Zerstörung der ärztlichen Schweigepflicht und damit der vertrauensvollen Arbeitsgrundlage zwischen Therapeut und Patient, der Verlust jeglicher Krankheitsdatensicherheit mit bei unbefugter Offenbarung unabsehbaren sozialen Folgen für die Betroffenen. Für die immer wieder vorgebrachten angeblichen Vorteile der ePA müssten entweder die Sicherheitsstandards gänzlich aufgehoben werden (sofortige Verfügbarkeit medizinischer Daten im Patientennotfall) oder ein immenser Aufwand der Datennormierung und Dateneingabe betrieben werden (wenn "die Forschung" im Rahmen einer Totalerhebung auf valide Daten aus der medizinischen Versorgungswirklichkeit zurückgreifen können soll).

Ferner ist die völlig unzureichende Robustheit eines durchdigitalisierten Gesundheitssystems im Falle von Black-out, Hackerangriffen, Naturkatastrophen und Kriegsszenarien zu berücksichtigen sowie das Thema Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit dem enormen Energiebedarf jeglicher digitalen Prozesse.

Den Versuchen, Kritikern der sogenannten Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen Inkompetenz, mangelnden guten Willen oder gar Defätismus zu unterstellen und sie zahlenmäßig zu marginalisieren, muss entgegengehalten werden, dass von breiter Zustimmung der "Leistungserbringer" überhaupt nicht die Rede sein kann. Verweigerer der Telematik-Infrastruktur (TI) werden seit Jahren mit spürbaren finanziellen Sanktionen belegt. Für bisherige Digitalisierungsprozesse sind bereits in den letzten Jahren Milliarden Euro ohne jeglichen erkennbaren Nutzen in den Sand gesetzt worden - Geld, das in der eigentlichen Patientenversorgung schmerzhaft fehlt. Die jetzt vom Minister vorgestellte Digitalstrategie im Gesundheitswesen setzt unübersehbar diese gigantische Ressourcenverschwendung fort und belegt in erschreckender Weise die völlige Entkopplung der gesetzgeberischen Steuerung von dem eigentlich dringlich gebotenen Reformbedarf im Gesundheitswesen - etwa eine Attraktivitätssteigerung der Berufsfelder zur Nachwuchsgewinnung oder die Sicherung der Medikamentenversorgung.

Dr. med. Johannes Ullrich, Calw, Facharzt Psychiatrie/Psychotherapie

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