Documenta 15 in Kassel:Warum Kunst frei sein muss - und wann sie zu weit geht

15.06.2022 xkhx Kassel, Auestadion documenta fifteen - Eröffnungspressekonferenz Symbolbild mit Schriftzug documenta fi

Anlass zu einer Kontroverse über antisemitische Kunst: Die 15. Documenta-Ausstellung in Kassel.

(Foto: Peter Hartenfelser/Imago)

Leserdebatte zu einem antisemitischen Werk, das aus der Schau entfernt wurde.

"Ein schrecklicher Abend" vom 1. Juli, "Von Antisemitismus und Antiimperialismus" vom 29. Juni, "Antisemitismus und Kitsch" vom 24. Juni, "Vielleicht überlebt" und "Kunst der Eskalation" vom 25. Juni, "Kommen wir nun zum Strafrecht" und "Es ist unser Fehler" vom 24. Juni:

Versagen der Verantwortlichen

Der Artikel "Die Kunst der Eskalation" über gewaltverherrlichende und antisemitische Kunst gibt einen guten Überblick über das Versagen der Documenta-Leitung im Umgang mit Kunst, die gegen Normen unserer freiheitlichen Demokratie verstößt. Er betont den damit provozierten Skandal, aber leider verharmlost er auch das fahrlässige Handeln der Verantwortlichen. Richtig ist, dass unsere Demokratie auf dem Grundsatz der Meinungsfreiheit beruht. Aber: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Dieser Grundsatz findet sich beispielsweise im Strafgesetzbuch (StGB) zu Paragrafen zur Störung des öffentlichen Friedens (§126), zur Volksverhetzung (§130 StGB), zur Belohnung und Billigung von Straftaten (§140 StGB) und zur Beleidigung (§185 StGB) wieder. Diese Vorgaben und Einschränkungen der individuellen Meinungsfreiheit sind essenziell für die Wahrung der demokratischen Grundrechte und das Funktionieren der Demokratie. Sie setzen auch implizit der Kunst ihre Grenzen.

Durch Wegschauen oder eher Gutgläubigkeit in die Gestaltungsfähigkeit des globalen Südens wurden in Kassel diese Grundrechte ausgehöhlt. Das kann auch nicht mit der Freiheit der Kunst gerechtfertigt werden, denn ansonsten könnte jede gewaltverherrlichende, rassistische, homophobe und antisemitische Äußerung damit gerechtfertigt werden. Denn die Grenzen zwischen Kunst und demokratiefeindlicher Propaganda sind fließend. Mit einer derart weitläufig ausgelegten Kunstfreiheit wäre das russische Z für "Za Pobedu", auf ein Plakat gemalt, dann ein Kunstwerk und keine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges, die hierzulande richtigerweise verboten wurde.

Somit hat die Documenta-Leitung eindeutig nicht nur ihr Ziel verfehlt, zum kulturellen Austausch der Nordhalbkugel mit dem globalen Süden beizutragen, sondern hat unsere demokratischen Grundwerte mit Füßen getreten. Es wurde die Chance vertan, mit unserer demokratischen, freiheitlichen und wertebasierten Grundordnung dem globalen Süden ein Vorbild zu sein.

Dr. Raymond Saller, Oberhaching

Arroganz statt Dialog

Beide Artikel ("Antisemitismus und Kitsch" und "Kommen wir nun zum Strafrecht") sind einleuchtend. Und doch fehlt beiden etwas Elementares: Wenn ein derart schockierender Vorfall passiert, sollte man zunächst versuchen, die Beweggründe dafür zu finden, indem man erstens sich selbst ein Bild davon macht und zweitens ein Gespräch sucht.

Erstens ist die ganze übrige Documenta 15 bemüht, Verständnis, Erkenntnis, Freundschaft, Offenheit füreinander und Lernen voneinander zu befördern, sowie dem "Westen" das Leid der Menschen im globalen Süden verständlich und nacherlebbar zu machen. In vielen hervorragend gemachten Videos und Filmen wird der Besucher erschüttert, aber auch begleitet durch die erschreckenden Geschehnisse, die auch vom reichen Westen mit verursacht worden sind und noch werden und unter denen ganze Völker zu leiden hatten und haben. Die koloniale Vergangenheit ist nicht vorbei. In "unserem" Denken, Fühlen, unserer oft herablassenden Begegnung mit Menschen, die uns fremd erscheinen, ist sie immer noch Gegenwart.

Zweitens: Es wurde nur vereinzelt wahrgenommen, wie sehr das Kollektiv Taring Padi und das Kuratorenteam Ruangrupa schockiert sind über die Reaktion in Deutschland. Im persönlichen Gespräch habe ich die tiefe Traurigkeit und Verstörung der Künstler darüber erfahren, die Fassungslosigkeit, dass seit jeher in ihrem Kulturkreis selbstverständliche Figuren eine solch zerstörerische Wirkung entfalten. Ich habe das mit großer Erschütterung selbst erlebt. In deren Sinne hatten diese Figuren eine unseren Piktogrammen vergleichbare Funktion, deren "fatale Symbolik längst global verständlich" ist, aber nicht bewusst als speziell judenfeindlich wahrgenommen wird, sondern zum Beispiel als der sich auf Kosten der Armen bereichernde Mensch, der - zumindest von meinen Gesprächspartnern - gerade nicht speziell als Jude gesehen wird. Es handelt sich jedenfalls nicht um "Darstellungen des Juden". Alle Gesprächspartner betonten, niemals judenfeindlich gewesen zu sein. Sie waren sich nicht bewusst, dass diese "Piktogramme" in Deutschland anders gesehen werden - ein Fehler!

Mein Fazit ist: Aufklärung tut not. Was ja auch geplant ist. Und es herrscht Lernbedarf bei den beteiligten Künstlern, der auch bedingungslos gewünscht, geradezu ersehnt wird. Welche Chancen tun sich da auf für globale Verständigung gegen Antisemitismus! Wenn unsere Politiker und Kommentatoren sich nur von ihrem hohen Ross herunterbegeben würden und auf Augenhöhe kommunizierten und sich damit befassten, wie anders man in anderen Weltgegenden "tickt". Was will man da mit "Kitsch" klein machen? Und was hat da unser deutsches Strafrecht zu suchen? Und was soll die Suche nach Verantwortlichen bewirken, wenn der Sinn dieser Documenta im Entwickeln von Ideen, dem Reifenlassen von noch Unfertigem und der Thematik, die ich oben beschrieben habe, liegt? Wie will man da die Kunst besser beaufsichtigen, wie es Claudia Roth vorhat? Und sie in ihrer Kreativität einschränken?

Hildegard Elma Bruckdorfer, Freudenstadt

Die Mohammed-Karikaturen

Im September 2005 erschienen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten unter der Bezeichnung "Das Gesicht Mohammeds" zwölf Karikaturen, die bewusst gegen das Abbildungsverbot Mohammeds verstießen. Und damit bewusst Muslime provozierten. Charlie Hebdo zog sechs Jahre später in ähnlichem Stil nach. Mit den bekannten Folgen. Kein westlicher Politiker schrie damals auf gegen die Verunglimpfung muslimischer Glaubensansichten. Man feierte Charlie Hebdo sogar dafür. Mit Ausnahme bezeichnenderweise nur des Vatikans, dessen Sprecher die Veröffentlichung der Karikaturen als "inakzeptable Provokation" bezeichnete und die nachfolgenden Gewaltaktionen verurteilte. Mit der Begründung, man könne über christliche Priester und die Bräuche der Moslems Satire betreiben, nicht aber über Gott, den Koran oder Mohammed. Der damalige deutsche Innenminister Schäuble verurteilte jegliche staatliche Einmischung in den "Karikaturenstreit" als "ersten Schritt zur Einschränkung der Pressefreiheit".

Nun aber, wenn ein indonesisches Künstlerkollektiv unter dem Titel "People's Justice" eine Installation zeigt, auf der ein Jude und der israelische Geheimdienst blasphemisch dargestellt werden, überschlagen sich unsere deutschen Politikerinnen mit der Forderung, solches zu verbieten und zu beseitigen. Weil gegenüber Muslimen eine andere Presse- und Meinungsfreiheit gilt als gegen Juden und den Staat Israel? Mein Gott. Man hätte doch darüber diskutieren können, warum die Künstlergruppe Juden und Mossad in ihrer Collage so dargestellt hat. Denn: Die Beseitigung der Installation beseitigt nicht den Holocaust. Er ist ganz allein unsere deutsche Schuld. Die bleibt. Auch wenn "People's Justice" nicht bleibt.

Josef Gegenfurtner, Schwabmünchen

Beschlagnahmen, vernichten

Ich hoffe, dass das Machwerk beschlagnahmt und dann vernichtet wird, wie das mit einem Sack Marihuana auch passiert. Sonst ist zu befürchten, dass die naiven Veranstalter das Objekt zurückgeben, mit der Folge, dass es danach multipliziert und ausgestellt wird.

Dieter de Lazzer, Tübingen

Übertriebenes Skandalisieren

Bitte die Kirche im Dorf lassen! Die Artikel und Kommentare empfinde ich als maßlos übertrieben und frage mich, wo bei dieser grenzenlosen Empörung eine gemäßigte Stimme bleibt, die die unschöne Darstellung zweier Figuren auf einem riesigen Wimmelbild von 2001 in einen politischen, künstlerischen und kulturellen Kontext setzt, ohne gleich die gesamte Documenta 15 pauschal zu skandalisieren. Mich befremdete, dass der Bundespräsident bei seiner Eröffnungsrede völlig unwidersprochen monieren durfte, dass es bei einer Weltkunstschau, die endlich den globalen Süden zum Thema hat, keine israelischen Künstlerinnen und Künstler gab. Unsere absolut berechtigte parteiische Sichtweise als Deutsche auf Juden und Israel kann nicht der heilige Maßstab bei einer wirklich internationalen Kunstausstellung sein. Antisemitismus und Israel-Kritik müssen unterschieden bleiben. Ich lasse mir die Vorfreude auf diese Documenta nicht nehmen.

Anneli Westheuser, Oldenburg

Noch nicht einmal Kunst

Die Documenta firmiert als Kunstausstellung, diesen hohen Anspruch erhebt sie seit ihrer Gründung. Deshalb wird scheinbar selbstverständlich jedes Machwerk, das dort ausgestellt wird, als "Kunstwerk" bezeichnet. Schon das ist in meinen Augen ein Skandal. Auch wenn ich das grafische Objekt der indonesischen Gruppe nur aus immerhin recht genauen Beschreibungen kenne, verstehe ich nicht, wie irgend jemand mit Verantwortungsgefühl und professionellem Urteilsvermögen sich eine solche "Arbeit" als Kunst verkaufen lassen und die Gruppe, die das leider erfolgreich eingereicht hat, auch als "Künstlerkollektiv" bezeichnen kann. Der Begriff "Kunst" ist vermutlich zu recht nicht geschützt, es ist trotzdem bedauerlich. Er ist ja auch nicht wirklich definierbar. Aber dass er inzwischen inflationär gebraucht, dass mit ihm Schindluder getrieben wird, dass dumm-banalste bis übel verhetzende Dinge von ihren Machern gern "Kunstwerke" genannt werden, versteht sich von selbst. Und viel zu oft, viel zu selbstverständlich, viel zu wenig hinterfragt wird von den Medien das begehrte Etikett - "Kunst", von "Künstlern geschaffen" - ohne Nachdenken weiter daran geheftet. Längst nicht jeder, der sich selbst als "Künstler" bezeichnet, ist das auch. Eine der Lehren aus dieser "Schande" muss also sein, deutlich genauer vorher hinzuschauen, was als Kunst bezeichnet werden kann, darf, soll, ehe man die Bühne freigibt für Urheber und deren Objekte. Und nicht nur bei der Documenta. Da es hier um Antisemitismus geht, wird natürlich sofort die politisch stark aufgeheizte Debatte losgetreten. In diesem Fall absolut zu recht.

Friedrich-Karl Bruhns, München

Strafrechtliche Konsequenzen

Der Vorwurf des Antisemitismus wird leider zunehmend inflationär verwendet, so dass die diesbezügliche Aufklärung mitunter bedenklich entwertet wird. Der ausgemachte Antisemitismus auf der Documenta 15 indes ist ein Skandal mit geradezu unverschämter Ansage. Ja gewiss, die Kunst ist frei. Frei, um Fragen aufzuwerfen, um zum differenzierten Nachdenken anzuregen, um Antworten zu suchen und/oder zur Disposition zu stellen. Wenn Kunst jedoch, wie nun öffentlichkeitswirksam, stereotyp wie infantil bis zum Erbrechen dargestellt, ausschließlich beleidigen, wüten und hassen will, erfüllt sie nicht nur keinen kulturellen Anspruch; es sind ohne Wenn und Aber strafrechtliche Konsequenzen zu prüfen. So frei sollten und müssen wir als aufgeklärte Gesellschaft sein.

Matthias Bartsch, Lichtenau

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